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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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hinein.
    Um Mischa zu beeindrucken, hob ich lässig die Hand und winkte einer Chinesin auf dem Dach nebenan, als wären wir schon alte Freunde. Ich hatte die Frau noch nie gesehen, aber sie winkte sofort lächelnd zurück.
    »Ihr müsst heilfroh sein, aus dem Heim herauszukommen«, meinte Mischa.
    »Und wie! Jetzt brauchen wir nur noch einen Platz für Onkel Erik, denn für vier Personen ist die Wohnung auf Dauer zu klein.«
    »Wisst ihr schon, wann er kommt?«
    »Nein, wir wissen nur, dass er mit dem Zug nach Wladiwostok fahren soll. Von dort ist es nur noch ein Sprung bis nach China und eine Passage leichter zu bekommen.«
    »Puh, stell dir bloß vor, wochenlang im Zug zu sitzen! Da hatten wir es aber schöner.«
    Ich stimmte zu, und einige Augenblicke dachte ich nun doch wehmütig an die Scharnhorst : die Bibliothek, den bequemen Liegestuhl an Deck, die wärmende Sonne während der Passage durch den Indischen Ozean. In Shanghai war der Winter ungemütlicher, als ich erwartet hatte. Nicht so kalt wie in Berlin, aber nass – eine feuchte, unangenehme Kälte, die Arme und Beine hinaufkroch wie eine dünne Eisschicht. Was den Winter betraf, würde das einzig Neue von heute an sein, dass wir ab sofort in unserer eigenen Wohnung frieren durften.
    »Hast du schon etwas gehört?«, fragte ich gedämpft, nachdem Frau Fränkel die Tür des Klohäuschens hinter sich zugezogen hatte.
    Mischa schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat er die Liste gar nicht weitergegeben.«
    »Vergessen, meinst du? Wie kann man so etwas vergessen?«
    »Du hast Recht. Vergessen hat er es bestimmt nicht. Aber merkwürdig ist es schon, dass ausgerechnet der, der nicht auf der Liste steht, einen Platz bekommt …«
    Ich konnte nur schlucken. Seit ich Bekkas Brief erhalten hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass eine höhere Macht sich für Thomas entschieden hatte, nur um mich zu strafen.
    Doch Mischa antwortete sich nach kurzem Nachdenken selbst. »Eigentlich müssen wir froh sein. Es heißt doch, dass die Chancen größer sind, als wir dachten. Vielleicht ist der Erste von Mr Tatlers Liste ja schon unterwegs und wir wissen es nur noch nicht!«
    Lass es Bekka sein!
    Ich betete stumm, inständig und an niemand Spezielles gerichtet. Welche höhere Macht für mich verantwortlich war, war mir, seit ich auf die jüdische Schule ging, ein größeres Rätsel denn je – sollten Jesus und Jahwe, der jüdische Gott, das bitte unter sich ausmachen! Hauptsache, einer von ihnen unternahm etwas.
    Leider blieb Mischa und mir wenig Zeit, das Dach zu genießen, denn urplötzlich schlugen um uns herum dicke Tropfen auf. Auch Regen benahm sich in Shanghai ganz anders als in Deutschland. Kaum hatte man die ersten Tropfen bemerkt und glaubte, aus reiner Gewohnheit noch einmal fragend in den Himmel blicken zu können, bekam man die Ladung eines ganzen Wassereimers schon quasi ins Gesicht geklatscht.
    Als wir fluchtartig das Dach verließen, kam Frau Fränkel, die ich schon fast wieder vergessen hatte, aus dem Klohäuschen und blieb mit hängenden Schultern im Regen stehen, als hätte sie keine Wohnung, in die sie zurückkehren konnte. »Ich hoffe, ihr dankt euren Eltern jeden Tag, dass sie euch mitgenommen haben!«, rief sie uns nach.
    War es wirklich erst vier Monate her, seit ich das letzte Mal allein in einem Zimmer geschlafen hatte? Es schien mir viel länger zurückzuliegen, so lange, dass ich mich kaum noch erinnern konnte, wie man so etwas machte: allein einschlafen. Einschlafen, ohne vom Wolf zu wissen, einschlafen, ohne zu ahnen, dass es für lange Zeit nur noch letzte Male geben würde.
    Kaum war das Licht erloschen und hatten meine Eltern sich in ihr Zimmer zurückgezogen, war ich wieder hellwach und horchte besorgt in die Dunkelheit. Der Wolf war da, aber verhielt sich still; selbst als ich die Augen schloss, konnte ich ihn nur noch verschwommen erkennen. Vielleicht hatte er begriffen, dass mit unserem Umzug in die Chusan Road die Zeit der ersten Male begann, in der er keinen Platz mehr hatte.
    Es war nicht seine Schuld, dass ich nicht einschlief. Ich hatte mich an das Atmen anderer Schläfer gewöhnt, das Schlagen von Türen, Schlurfen von Schritten und Flüstern von Stimmen, die im Heim auch nachts nie ganz verstummt waren, und es dauerte eine Weile, bis ich die Geräusche der neuen Umgebung in mich aufgenommen hatte. Regen trommelte ans Fenster, Holzkarren polterten über die Straße und etwas schabte und raschelte hinter der Wand. Einmal erhoben

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