Nanking Road
murmelte Onkel Victor, was überhaupt nicht zur Liturgie gehörte. Erst dann setzte er an, meine Fragen in seiner schönen Bassstimme zu beantworten.
Die jüdischen Sprechgesänge waren wie immer so ergreifend, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken kroch und ich mir sehnlichst wünschte, dass auch meine Eltern davon berührt wurden. Das Gesicht meiner Mutter jedoch trug denselben verlegenen, abwehrenden Ausdruck wie an den wenigen Abenden, an denen wir bei Liebichs zum Schabbat eingeladen gewesen waren, und es verletzte mich, ihr Befremden zu sehen. Ich schämte mich für sie.
Diesen Teil ließ ich aus, als ich Judith nach dem Pessach-Wochenende Bericht erstattete. Ich hatte ihr erzählt, dass Onkel Victor und Tante Irma für meine Schulgebühren aufkamen und wie wichtig es für mich war, bei diesem höchsten aller jüdischen Feste einen guten Eindruck zu machen. Nun freute sie sich mit mir, sie strahlte vor Stolz, sie umarmte mich. Ich lief über vor Glück.
Und obwohl ich von der Reaktion meiner Mutter gar nichts gesagt hatte, bat sie: »Lass dich von deinen Eltern niemals abhalten, das Richtige zu tun. Versprichst du mir das, Ziska?«
»Natürlich«, erwiderte ich ohne nachzudenken.
Ich hätte Judith alles versprochen; ich wunderte mich, dass sie das nicht wusste. Und ich konnte nur hoffen, dass sie vorsichtig umging mit ihren Wünschen an mich.
13
Konnte ich Frau Kepler eine Frage stellen? Fast vierundzwanzig Stunden hatte ich mit mir gerungen, denn es war nicht irgendeine Frage, die mir durch den Kopf ging, es war eine Frage, die mich verraten konnte, und damit stand ich womöglich vor meinem letzten Besuch im Reisebüro. Wieder einmal merkte ich, wie sehr diese heimlichen Ausflüge binnen kurzer Zeit Teil meines Lebens geworden waren und wie schmerzlich ich sie vermissen würde.
»Ein japanisches Schiff ist nach Shanghai unterwegs, die Sasebo «, begann ich zögernd. »Kann man herausfinden, wann es anlegt?«
»Natürlich«, erwiderte Frau Kepler sofort und griff zu ihrem Telefon, und wenige Sekunden später hörte ich sie Japanisch reden. Frau Kepler kannte sich aus mit Visa, Einreise- und Zollbestimmungen, sie hörte von jeder Unruhe und wusste, von welchen Gegenden einer fremden Stadt man sich besser fernhielt. Frau Kepler konnte die Leute an jeden beliebigen Ort der Welt schicken, versehen mit allen Informationen, die sie brauchten, und es überraschte mich überhaupt nicht, dass sie auch noch fremde Sprachen beherrschte.
Ich stand vor ihrem Schreibtisch wie eine Kundin und wahrscheinlich war es reine Gewohnheit, dass sie mich, während sie in den Hörer sprach, mit einer Handbewegung zum Sitzen aufforderte. Ich nahm auf dem Kundenstuhl Platz, verlegen und fasziniert. Die Brille vorn auf die Nase geschoben, kritzelte sie auf ihren Schreibblock. Eine graue Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und sie schob sie hinters Ohr. Aus dieser Perspektive, stellte ich plötzlich fest, sah Frau Kepler anders aus als aus meiner Ecke neben dem Schaufenster. Freundlicher. Näher. Fast schon wie eine alte Bekannte.
»Wenn du die Sasebo erwischen willst«, sagte sie, als sie den Hörer auflegte, »musst du dich beeilen, sie liegt nämlich schon auf dem Huangpu.«
»Was?«, rief ich und sprang auf wie von der Tarantel gestochen.
»Ich hoffe doch«, sagte Frau Kepler mit einem Ausdruck, der beinahe an ein gutmütiges Zwinkern gereichte, »du hast nicht vor, dich nach Japan abzusetzen?«
»Nein, ganz bestimmt nicht!«, rief ich und konnte nicht anders, ich brach in ein so breites Grinsen aus, dass ich kaum noch sprechen konnte. »Mein Onkel ist auf diesem Schiff! Gestern haben wir eine Karte aus Wladiwostok bekommen und jetzt ist er schon da! Ist es«, fragte ich besorgt, »auch ganz bestimmt dasselbe Schiff?«
»Ganz bestimmt«, sagte Frau Kepler. »Brauchst du Geld für die Straßenbahn?«
»Nein, danke«, erwiderte ich. »Ich bekomme Taschengeld, meine Eltern haben jetzt Arbeit.«
Für Augenblicke hingen die Worte in der Luft – angesichts mehrerer Wochen, die wir hinter uns gebracht hatten, ohne zu reden, war dies nahezu eine Fülle von Informationen – musste sie sich nicht spätestens jetzt denken, was mit mir los war?
Aber sie sagte nur: »Na, worauf wartest du dann noch?«
Frau Kepler war einfach der am wenigsten neugierige Mensch, den ich kannte.
Der Monat Mai musste der beste Zeitpunkt sein, um in Shanghai anzukommen. An den zierlichen Kirschbäumen in den Parks und entlang der Straßen im
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