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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Settlement blühte es weiß und rosa, die Frühlingssonne legte einen Hauch von Gold über die Häuserschluchten und selbst die Sampans auf dem Huangpu wirkten sauberer, fröhlicher und bunter. Ruhig und geordnet glitten sie zwischen Fracht- und Passagierschiffen dahin, links und rechts, hinter- und nebeneinander, jedes hatte seinen Platz, wie auf einer breiten gemächlichen Straße.
    Gut, dass der Fluss stank, daran konnte auch das schöne Wetter nichts ändern, aber ich vertraute darauf, dass es nicht das Erste war, was Onkel Erik auffiel. Er gehörte nicht zu den Menschen, die in allem, was ihnen vor Augen kam, zunächst das Schlechte und Hässliche erblickten.
    Die Sasebo war viel kleiner als die Scharnhorst , ein bescheidener Dampfer mit bloß zwei Decks. Der Lotse hatte das Schiff bereits auf seine Warteposition gewiesen, aber noch ein weiteres Boot legte an seiner Seite an, kaum dass ich atemlos den Fluss erreicht hatte, und ich konnte beobachten, wie mehrere Männer an Bord gingen.
    Da die Einwanderung inzwischen strikter gehandhabt wurde als noch bei unserer Ankunft, vermutete ich, dass es sich um Mitarbeiter der Zoll- oder Einwanderungsbehörde handelte – vielleicht rührte daher die merkwürdige Atmosphäre, die das Schiff ausstrahlte. Die Sasebo war angekommen, ihre Passagiere noch nicht. Niemand stand an Deck, um die Landung mitzuerleben, nur hinter den Bullaugen der Kabinen meinte ich Bewegungen zu erkennen.
    Eine halbe Stunde später stand ich immer noch an meinem Platz. Hätte ich gewusst, dass so viel Zeit blieb, wäre ich nach Hause gelaufen und hätte Papa geholt! Nun war es zu spät, nun musste es jeden Augenblick losgehen und ich wollte Onkel Erik auf keinen Fall verpassen. Ich malte mir sein Gesicht aus, wenn er mich am Kai entdeckte. Papas Gesicht, wenn ich Onkel Erik mit nach Hause brachte! Mamu würde leider auf die Überraschung warten müssen; sie hatte viel zu spülen im Krankenhaus und kam selten vor halb elf nach Hause.
    Anderthalb Stunden später begann die Sonne hinter den Fabriken auf der Halbinsel Pudong malerisch in den Ozean zu sinken, die Sampans lagen in Reihen nebeneinander vertäut und ich hörte die Stimmen ihrer Bewohner über das Wasser dringen. Irgendwo schrie gellend eine Frau, hörte gar nicht auf, woanders wurde gelacht und gesungen. Und mittendrin die Sasebo , die im grau gewordenen Licht mit einem Mal an ein Geisterschiff erinnerte.
    Bis dahin hatten mir nur allmählich die Füße wehgetan, aber als ich die Sonne verschwinden sah, konnte ich nichts dagegen tun, dass ich anfing, mich zu fürchten. Noch nie war ich nach Einbruch der Dunkelheit alleine draußen gewesen, geschweige denn so weit von zu Hause entfernt, und sämtliche Mahnungen unseres Informationsblattes fielen mir ein, aber konnte ich jetzt noch nach Hause laufen? Was, wenn ich mit Papa zurückkehrte – und die Sasebo war verschwunden? Ich sah uns die Heime abklappern auf der vergeblichen Suche nach Onkel Erik, ich sah Tante Ruth schreien und weinen und uns in jedem neuen Brief noch bitterere Vorwürfe machen. Mein Mann war unterwegs zu euch und ihr habt ihn verloren!
    Mein Mund wurde trocken. Nein, ich musste bleiben, einer von uns musste aufpassen, was geschah. Und selbst wenn ich, woran ich nicht denken wollte, Onkel Erik nicht zu Gesicht bekam – irgendeiner würde vielleicht von Bord kommen, der mir sagen konnte, warum sie ihn nicht an Land gelassen hatten und wohin sie ihn brachten.
    Auf dem Fluss begann es zu blitzen. In sternklaren Nächten unterhielten sich die Besatzungen der Schiffe per Morsezeichen, die sie mithilfe ihrer Mastbeleuchtung in die Dunkelheit funkten. Von unserem Dach in der Chusan Road war dies ein schöner und spannender Anblick, zumal Herr Fränkel das Morsealphabet übersetzen konnte. Jetzt fühlte ich mich nur noch einsamer und musste an Papa denken, der vor lauter Sorge um mich bestimmt bereits verrückt wurde. War er wohl schon bei Konitzers? Konitzers waren der einzige Anhaltspunkt, den meine Eltern haben würden, wenn mir etwas zustieß. Wenn mir etwas zustieß, würde ich nicht einmal eine Spur hinterlassen!
    Mir kamen die Tränen bei diesem Gedanken und ich versuchte, mir nicht auszumalen, was genau mir eigentlich zustoßen konnte, wenn ich allein nach Hongkou zurücklaufen musste. Allein über die Brücke, am Posten vorbei, allein über die Straßen mit ihren finsteren Gestalten. Allein mit all den Geräuschen, die wir nachts durch das vergitterte Fenster

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