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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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hörten.
    Und irgendwo dort draußen war bestimmt auch mein Kuli. Ich dachte immer noch an ihn und hielt besorgt die Augen offen, ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. Hatte er die Gegend gewechselt? In der Chusan Road hatte ich ihn nie wieder gesehen, aber was hieß das schon? Vielleicht war er nachts dort, beobachtete unser Haus, sah mich durchs Fenster und sann auf Rache für seine Demütigung. Vielleicht beobachtete er mich gerade jetzt …
    Bis sich die Sasebo mehr als vier Stunden nach meinem Eintreffen am Hafen endlich in Bewegung setzte, war ich so starr vor Angst, dass ich kaum noch den Kopf wenden konnte. Auf steifen Beinen stakte ich dem Schiff hinterher zu seinem Anlegeplatz – und stellte fest, dass ich, anstatt auf Höhe der Sasebo auszuharren, besser ein Stück weiter gewartet hätte. Der Empfangstisch der jüdischen Gemeinde war verlässlich aufgebaut und derselbe Herr, der meine Eltern und mich fast fünf Monate zuvor begrüßt hatte, trat fröstelnd von einem Fuß auf den anderen.
    »Was machst du hier zu dieser Stunde?«, fragte er mich streng.
    »Ich warte auf meinen Onkel.« Vor Erleichterung hätte ich am liebsten geheult.
    »Ganz allein? Sind deine Eltern noch recht bei Trost?«
    Ich biss mir auf die Lippen, aber der Mann schien keine Lust zu haben, der Sache auf den Grund zu gehen.
    »Kann jetzt nicht mehr lange dauern«, brummte er und sah vorwurfsvoll zu dem Schiff auf. »Hoffentlich lassen sie alle raus. Sie prüfen ja jetzt jeden einzeln.«
    Ich wagte nicht zu fragen, wer sie waren – die Deutschen waren es vermutlich nicht, sie hatten hier nichts zu sagen, also konnten nur die Japaner gemeint sein. Traf es etwa nicht mehr zu, dass sie nichts gegen Juden hatten? War ihre Meinung umgeschlagen?
    So etwas kam vor. Früher waren angeblich auch unsere Nachbarn in der Hermannstraße freundlich gewesen. Armer Onkel Erik – kaum war er hier, schlug die Meinung um!
    Dann allerdings fiel mir ein, dass er ja noch nicht einmal hier war, und ich fuhr fort, ängstlich auf die leere Gangway zu starren, die von zwei japanischen Matrosen bewacht wurde. Endlich, nach einer weiteren Viertelstunde, wurde der Ausgang freigegeben und die Passagiere polterten so eilig die hölzernen Planken hinunter, als würde eine Herde Pferde auf die Stadt losgelassen.
    Unwillkürlich trat ich zwei Schritte zurück; im Dunkeln konnte ich sowieso nicht erkennen, wen ich vor mir hatte.
    »Onkel Erik?«, rief ich schüchtern, als die ersten beladenen, muffig riechenden Gestalten an mir vorbeitrampelten, dann, lauter: »Onkel Eeeeeerik!«
    »Hier!«, schallte es von oben zurück. »Hier oben!«, und noch mehr Bewegung kam jäh in die Pferdeherde, als schubste und knuffte sich jemand den Weg frei. »He, lasst mich durch, das war doch meine Nichte, ja, ist denn das die Möglichkeit? Ziska! Hier bin ich, Herzchen, ich bin schon auf der Planke, ich bin gleich … jetzt bin ich da!«
    Meine Familie war klein. Ich erinnerte mich an ein kaltes Treppenhaus, das zu einem Wohnzimmer mit dicken Teppichen und schweren Vorhängen führte, an ein Klo mit klappernder Kette und eine stark nach Seife riechende Frau, mit der ich aus irgendwelchen Gründen allein in einer Küche gewesen war. Sie stellte einen widerlich dickflüssigen Kakao vor mich hin und beobachtete wohlwollend, wie ich mich beim Hinunterschlucken beinahe übergab.
    Viel schwächer war meine Erinnerung an die beiden gebrechlichen alten Leute, die in der Wohnung gelebt hatten – meine Großeltern väterlicherseits. Noch vor meinem fünften Geburtstag starben beide kurz hintereinander, und obwohl es in Süddeutschland weitere Verwandte gab, lernte ich sie nie kennen. Papas älterer Bruder war »im Krieg geblieben«, wie es hieß, und bevor ich nach Jahren endlich begriff, dass er keineswegs geblieben, sondern gestorben war, stellte ich mir mitfühlend vor, dass irgendwo auf der Welt ein Onkel von mir kämpfte und kämpfte und einfach nicht aufhören konnte.
    Was man als meine Familie bezeichnen konnte, bestand aus meinen Eltern, Tante Ruth, dem angeheirateten Onkel Erik und ihren beiden kleinen Nervensägen – und selbst von diesen Verwandten hatte ich wenig gesehen, bevor wir notgedrungen bei ihnen hatten einziehen müssen. Ich wusste nicht, warum Mamu und ihre jüngere Schwester es miteinander nicht aushielten, vermutete jedoch, dass es mit Neid zu tun hatte. Auf den Fotos meiner unscheinbaren Berliner Großeltern war zu erkennen, dass meine Mutter alles

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