Narben
wahrscheinlich ein gewisser Curtis Ape, ein Filmproduzent.« Ich beschrieb, wie er vor einundzwanzig Jahren ausgesehen hatte.
»Den habe ich nie gesehen. Vielleicht war er der Mann mit dem Rücken zu mir… aber wer war der mit dem Schnurrbart?«
»Da gibt es mindestens zwei Möglichkeiten: Trafficant oder David Mellors, ein anderer Schriftsteller, groß, hellhäutig, ein blonder Mischling. Beide trugen dünne Schnurrbärte. Mellors ist eines der Mordopfer, auf die wir inzwischen gestoßen sind.«
»Der Mann in meinem Traum ist mit Sicherheit weiß, und der Schnurrbart ist dicht und dunkel.«
»Ihr Traum muß nicht in allen Einzelheiten der Wirklichkeit entsprechen.«
Sie wollte in ihren Wagen steigen, und ich hielt sie am Handgelenk fest.
»Ich habe gestern mit Ape geredet. Ich habe ihm erzählt, ich wolle eine Biographie über Lowell schreiben. Er könnte mich durchschaut haben und nervös geworden sein. Möglicherweise ist er oder jemand, den er geschickt hat, in diesem Augenblick bei Ihrem Vater.«
»Das ist ausgeschlossen. Ich beobachte das Grundstück seit Sonnenaufgang. Es ist niemand rein oder rausgefahren.«
»Sie haben sich dort auf die Lauer gelegt?«
»Nein, ich habe einfach in meinem Auto gesessen, um Mut zu sammeln. Hier herunter bin ich nur gekommen, um einen Kaffee zu trinken und die Toilette zu benutzen. Ich wollte gerade wieder zurückfahren.«
»Woher wissen Sie, daß Sie niemand gesehen hat?«
»Seien Sie beruhigt. Ich hatte das Haus die ganze Zeit im Auge.«
»Von Sonnenaufgang bis jetzt?«
»Ich weiß, Sie halten es für dumm, aber ich muß ihn sehen. Ich muß ihn endgültig aus meinem Leben verbannen.«
»Das verstehe ich ja, aber dies ist wirklich nicht der beste Augenblick.«
»Es geht nicht anders, tut mir leid. Sie sind ein wunderbarer Mensch. Ich vertraue Ihnen - Ihnen und Milo -, aber ich brauche diese Begegnung. Ich kann es nicht länger aufschieben. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich will nur mit ihm reden.« Sie stieg in ihren Wagen und ließ den Motor an. »Wenn ich es jetzt nicht tue, bringe ich vielleicht nie mehr den Mut dafür auf.«
Sie rollte vom Parkplatz. Ich schaute ihr nach, bis sie außer Sicht war. Dann fuhr ich ihr nach.
42
Lucy fuhr sehr langsam, und ich hielt reichlich Abstand. Als ich in den Weg zum Sanktum einbog, war sie nirgendwo zu sehen. Ich kroch im Schrittempo den Hügel hinauf. Sie hatte beide Tore offengelassen, und bald teilte sich der Wald vor mir und gab den Blick auf das große Blockhaus frei.
Sie hatte mit dem Auspuff zum Haus geparkt, weit weg von dem Mercedes und dem Jeep. Andere Wagen waren nicht zu sehen.
Die Haustür war zu, also nahm ich an, Lucy wäre schon hineingegangen und war überrascht, als sie hinter ihrem Wagen auftauchte. Hatte sie etwas aus dem Kofferraum geholt? - Nein, ihre Hände waren leer.
»Betrachten Sie es als einen Hausbesuch«, wollte ich sie beschwichtigen, als sie mich sah, doch sie war gar nicht wütend. Sie sagte nichts und starrte an mir vorbei. Sie wirkte wie unter Hypnose. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und einen Moment lang dachte ich, sie würde die Nerven verlieren, doch dann ging sie die Stufen zum Haus hinauf.
Als sie energisch an die Tür klopfte, stand ich schon neben ihr.
Drinnen rührte sich nichts. Sie klopfte noch fester. »Komm schon, komm schon.«
Ich schaute durch die schmutzigen Fenster. Die große Halle war dunkel und leer.
Lucy begann, die Tür mit beiden Händen zu bearbeiten. Als immer noch niemand antwortete, rannte sie die Stufen hinunter. Dann lief sie um das Haus herum, ging auf das dichte Gebüsch zu und schaute an der Rückwand hoch.
»Da oben«, flüsterte sie.
Über uns rief jemand: »Wer ist da?«
Nova stand hinter einer grauen Gardine an einem Fenster im zweiten Stock.
»Hallo, Nova. Wir haben geklopft, aber es hat niemand geantwortet.« Ich faßte Lucy bei der Hand. Sie war eiskalt.
Novas Gesicht war kaum zu erkennen hinter dem Vorhang.
»Sie sind also gekommen.«
Ich spürte Lucy s Fingernägel in meiner Hand. »Wir waren in der Gegend und wollten nur mal vorbeischauen. Geht das?«
»Sicher, wenn Daddy nichts dagegen hat.« Ihr Lachen klang gekünstelt. »Kommen Sie nach vorn.«
Sie erwartete uns an der Tür und hielt ein Glas Limonade in der Hand. »Er war ziemlich übler Laune, als er sich hinlegte. Ich sage ihm jetzt, daß Sie da sind.«
»Das sage ich ihm lieber selbst.« Lucy ging an ihr vorbei in den Wohnsaal und nahm die Leere, den Anblick der
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