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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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sein.«
    »Schade. Ich kann sie jetzt nicht erreichen. Könnten Sie ihr etwas ausrichten, falls Sie mit ihr reden? Es ist besser, wenn sie davon weiß.«
    »Worum geht es denn?«
    »Heute morgen rief mich mein Bruder an und erklärte, warum er nicht zu unserem Abendessen erschienen ist. Offenbar hat er dringende Geschäfte zu erledigen, ausgerechnet in Taos, mitten in der Wüste. Ich erzählte ihm, was mit Lucy passiert war, und er geriet völlig aus dem Häuschen. Und dann sagte er, er könnte nicht weg.«
    »Dasselbe hat er Dr. Embrey erzählt. Er muß sie sofort danach angerufen haben.«
    »Eigenartig. Vor einer Woche war keine Rede von irgendwelchen Geschäften. Er sagte, er sei seit Ewigkeiten arbeitslos. Was kann denn plötzlich so dringend sein?«
    »Das weiß ich auch nicht, Ken.«
    »Ich muß sagen, Doktor, er klang ziemlich seltsam. Ich werde das Gefühl nicht los, er ist in Schwierigkeiten. Ich dachte, Lucy weiß vielleicht etwas darüber und hat es Ihnen erzählt und Sie könnten mich aufklären, wenn es nicht gegen die Schweigepflicht verstößt.«
    »Sie hat nichts erwähnt, Ken, wirklich nicht.«
    »Gut, danke. In den nächsten Wochen werde ich öfter in Los Angeles sein. Meinen Sie, es hat einen Zweck, wenn ich sie besuche?«
    »Darüber sollten Sie mit Dr. Embrey reden.«
    »Natürlich. Ich sag Ihnen, Doktor, es ist komisch.«
    »Was ist komisch?«
    »Daß ich plötzlich eine Familie habe.«
    Die Psychiatrie im Woodbridge war im dritten Stock, hinter Schwingtüren mit der Aufschrift GESCHLOSSENE ABTEILUNG. Ich drückte einen Summer, gab meinen Namen durch und hörte, wie die Riegel zurückgezogen wurden.
    Hinter der Tür war ein langer, hellerleuchteter Korridor. Der schokoladenbraune Teppich war frisch gesaugt, die Farbe der Wände ein warmes bräunliches Weiß. Jeweils zehn Türen auf beiden Seiten. Die Schwester hinter dem Schreibtisch am Ende des Ganges erwartete mich.
    »Dr. Delaware… Lucretia ist in Nummer 14, da drüben links.«
    Lucys Zimmer war eine Zelle von sechs Quadratmetern, mit einem Bett, einem furnierten Nachttisch, einem winzigen offenen Schrank, einem Schreibtisch und einem Stuhl im Kinderformat. Hoch an der Wand war ein Fernseher angeschraubt. Die Fernbedienung war am Nachttisch befestigt. Daneben lag ein Stapel Taschenbücher. Krimis. Der oberste hieß Todsünde .
    Lucy saß auf dem Bett, in Jeans und einem weißen Hemd, die Ärmel aufgerollt bis zu den Ellbogen. Sie war barfuß und hatte das Haar hochgebunden. Auf ihrem Schoß lag eine Illustrierte.
    »Hallo.« Sie legte die Zeitschrift weg.
    »Wie geht’s?« Ich setzte mich auf den Stuhl.
    »Ich bin froh, wenn ich hier rauskomme.«
    »Sind Sie zufrieden mit Ihrer Behandlung?«
    »Ja, aber es ist trotzdem ein Gefängnis.«
    »Ich habe mit Dr. Embrey gesprochen. Sie ist nett, nicht wahr?«
    »Ja, ganz nett«, sagte sie ohne Begeisterung. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen sie, aber wenn ich draußen bin, will ich nichts mehr mit ihr zu tun haben.«
    »Warum?«
    »Sie ist zu jung. Was kann sie schon für Erfahrung haben?«
    »Hat sie irgend etwas gesagt oder getan, weswegen Sie ihr nicht vertrauen?«
    »Nein, sie ist bestimmt nicht schlecht. Aber ihr Alter… Außerdem ist sie dafür verantwortlich, daß ich hier festgehalten werde. Sie ist die Kerkermeisterin, nicht wahr? Wenn ich erst draußen bin, will ich das alles vergessen, alle, die damit zu tun haben. Denken Sie, das ist blöd?«
    »Ich denke, es ist gut, wenn Sie mit jemandem hier reden.«
    »Und warum kann ich nicht mit Ihnen reden? Sie sind erfahren, und Sie kennen mich schon. Warum alles von vorn anfangen?«
    Ich schwieg.
    »Okay, Sie sind also anderer Meinung.«
    »Ich lasse Sie nicht im Stich, Lucy.«
    »Und trotzdem meinen Sie, ich sollte mit Dr. Embrey reden.«
    »Ich bin immer für Sie da und helfe, wo ich kann, aber ich glaube, es ist das beste im Moment.«
    Sie schaute mir in die Augen.
    »Vielleicht wäre es besser, ganz aufzuhören mit der Therapie. Wer sagt überhaupt, daß ich einen Psychiater brauche? Glauben Sie wirklich, ich hätte versucht, mich umzubringen?«
    »Es sieht so aus, Lucy.«
    Sie lächelte gequält. »Wenigstens sind Sie ehrlich. Und wenigstens nennen Sie mich Lucy. Hier nennen mich alle Lucretia. Den Namen hat er mir verpaßt. Nach Lucrezia Borgia. Er haßt Frauen. Jodies voller Name war Jokaste. Ich nehme an, Sie kennen die Ödipus-Geschichte.«
    »Und Ihre Brüder?«
    »Die Jungennamen sind normal. Da durfte immer

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