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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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dreckiges, mit Blüten und Müll übersätes Wasser, das nach Attar roch. Leute wateten vorüber, bis auf die Haut durchnässt, die Gesichter verzückt im kohlegrauen Licht. Wie ich da im Regen stand, waren sie meine Brüder. Weit breitete ich meine erbärmlichen, irregeführten Arme aus. Ich wollte die Stadt umschlingen, jede Frau, jedes Kind, Mensch oder Tier. Ich wollte sie retten. Und dann sah ich Dimple auf dem Balkon ein Buch lesen und die Augen zusammenkneifen, als hinge ihr Leben von den Worten ab. Als sie mich sah, stand sie auf. Ein Pflaster haftete ihr am Kinn, und sie sagte etwas, was ich nicht verstand, oder ich verstand es, kann mich aber nicht daran erinnern. Ich ging mich von ihr verabschieden, und sie flüsterte mir ins Ohr, wiederholte, was sie zuvor gesagt hatte, oder sagte etwas anderes, doch verstand ich sie immer noch nicht, bis ich die Tasche von Air India in ihrer Hand sah. Sie hatte ihre Habe gepackt und auf dem Balkon auf mich gewartet. Es regnete noch, und die Flut unter uns schien mir plötzlich sehr tief, obwohl ich wusste, dass sie das nicht war. Dimple sah zu, wie sich auf dem Balkon eine Pfütze bildete, und sagte: Nimm mich mit. Ich sterbe, wenn ich hierbleibe.
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    Welch andere Entschuldigung hätte ich vorbringen können als die Tatsache, dass ich ging und es keinen Ort gab, wohin ich sie hätte mitnehmen können? Dann aber fiel mir ein, es stimmte nicht, es gab durchaus einen Ort, an den sie gehen könnte. Gemeinsam brachen wir auf, als wäre es selbstverständlich, gemeinsam aufzubrechen. Ich trug ihren Koffer, Dimple blickte stur geradeaus, konzentriert auf die Aufgabe, die wacklige Holzstiege hinabzusteigen, und nur ich wandte mich um, wollte sehen, ob jemand bemerkte, dass wir gingen, Rashid vielleicht oder einer seiner Lakaien, die uns hinterhertrotteten, doch da war niemand. Der Wasserpegel schien leicht gefallen zu sein; auf der Hauptstraße fanden wir ein Taxi. Dimple schwieg, bis wir bei Worli am Strand entlangfuhren, in dem Moment aber erinnerte sie sich, dass ihr jemand gesagt hatte, das einzig Schöne an Bombay sei das Meer. Sie sagte, das stimme nicht, es gebe anderes Schönes, auch wenn ihr im Augenblick rein gar nichts einfalle. Nach einer Weile fragte sie, wann wir am Chowpatty Beach vorbeikämen, und als ich sagte, der läge schon hinter uns, schaute sie so bestürzt drein, dass ich den Fahrer bat zu wenden und uns zurückzubringen. Wir parkten auf der Straße und liefen das kurze Stück zum Strand, der um diese Zeit verlassen dalag. Das Meer schien geschwollen von Wogen und Regen. Es waren keine Vögel am Himmel, oder es waren fluoreszierende Vögel, die raue Melodien pfiffen, Vögel, die, wie sich herausstellte, Milane waren und sich nur Augenblicke später als keineswegs fluoreszierend, sondern als durchsichtig erwiesen, auch keine Milane, sondern Krähen waren, durchsichtige Albinokrähen, die Dissonanzen krächzten, keine Melodien, und Dimple ging in die Hocke unter diesem grässlichen Himmel, über den leuchtende Vögel segelten, und fragte mich, ob ich die Lichter eines Schiffes sähe, dort am Horizont. Ich folgte mit den Blicken ihrem ausgestreckten Finger, sah aber nichts; das Meer war zu aufgewühlt und voller Regen. Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, ob ich überhaupt antwortete, doch erlebte ich einen hellsichtigen Augenblick, und mich überkam ein Gefühl der Sehnsucht und Sorge, Dimples Sehnsucht und Sorge, so dass ich einen Moment lang sehen konnte, was sie sah, eine verirrte Dschunke mit zerfetzten Segeln, die eine große Zeitspanne zurückgelegt zu haben schien, von der Vergangenheit in die Zukunft mit zu wenigen Zwischenstopps für Proviant und Reparaturen. Und ich wusste, Dimple wollte, dass das Schiff ein Boot ausschickte, um sie zu holen und mit sich fortzunehmen, irgendwohin, wo es ruhig war und sauber, wo sie sich ausruhen und ihre Wunden pflegen konnte, und gerade da, gerade, als ich fühlte, wie sich ihre Trauer auf meine Brust senkte, da stand sie auf und ging zurück zum Taxi.
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    Als wir vor meinem Apartment aus dem Fahrstuhl traten, hörte ich das Telefon klingeln. Es war die Fluggesellschaft, die anrief, um Bescheid zu geben, dass die Flugzeit nun feststünde und ich noch am selben Tag fliegen würde. Ich legte auf, blickte mich in der Wohnung um und hatte plötzlich das Gefühl, viel zu früh abzureisen. In einem Koffer fand ich eine Jeans und ein Hemd; Dimple zog ihren Sari aus. Wir saßen auf dem Boden, und sie

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