Narkosemord
ihm auf Seiberts Rat hin zugesteckt hatte, mit der Gier eines hungrigen Hundes an sich gerafft und eingesackt.
»Es ist alles arrangiert«, hatte er in pietätvollem Flüsterton gesagt, als handle es sich um eine Beerdigung. »Wir treffen uns dann draußen am Grab.«
Kelly, Jeffrey und Seibert waren daraufhin nach Edgartown gefahren und im Charlotte Inn abgestiegen. Kelly und Jeffrey hatten sich als Mr. und Mrs. Everson eingetragen.
Der einzige Stolperstein war Harvey Tabor, der Baggerführer, gewesen. Er war nach Chappaquiddick rausgefahren, um eine Abwassergrube für ein Strandhaus auszuheben, und erst nach vier Uhr zurückgekehrt. Aber auch dann hatte er noch nicht direkt zum Friedhof kommen können. Seine Frau, so hatte er erklärt, habe etwas Besonderes zum Essen gekocht, weil seine Tochter Geburtstag habe, und er könne erst nach dem Essen zum Friedhof kommen.
Die ganze Aktion war dann schließlich kurz nach sieben angelaufen. Das erste, worauf Jeffrey Seibert hingewiesen hatte, war, daß kein Mensch danach verlangt hatte, die Genehmigungen zu sehen. Boscowaney hatte sie nicht einmal gefragt, ob sie überhaupt eine hatten. Seibert hatte erwidert, daß es trotzdem gut sei, daß sie sie hätten. »Es ist erst dann vorbei, wenn’s vorbei ist«, hatte er hinzugefügt.
Der Friedhofswärter war ein Mann namens Martin Cabot. Er hatte ein zerknittertes Gesicht und war spindeldürr. Er sah eher nach einem wettergegerbten Seemann als nach einem Friedhofswärter aus. Cabot hatte Seibert erst eine halbe Minute beäugt, bevor er schließlich gesagt hatte: »Sie sehen mir aber noch verdammt jung für einen Leichenbeschauer aus.«
Seibert hatte darauf erwidert, er habe in der Schule ein paar Klassen übersprungen und so seine Ausbildung erheblich verkürzen können. Außerdem sei er ausgebildeter Arzt und nicht bloß Leichenbeschauer. Jeffrey hatte das Gefühl, daß Seibert in dem Punkt ziemlich sensibel war.
Der Friedhofswärter und der Baggerführer konnten sich offenbar nicht sonderlich gut leiden. Cabot sagte Tabor ständig, wie er sich mit seinem Bagger hinzustellen und was er zu tun und zu lassen habe. Tabor giftete ihn daraufhin an, er sei schon lange genug Baggerführer und brauche keine klugen Ratschläge.
Um halb acht hatte sich dann endlich die Schaufel des Baggers zum erstenmal ins Erdreich gesenkt, unmittelbar vor Henry Nobles Grabstein. Das Grab lag an einem schattigen Platz unter einem großen Ahornbaum. »Das ist ein gutes Zeichen«, hatte Seibert gesagt. »Bei den Witterungsverhältnissen, die an dieser Stelle herrschen, können wir davon ausgehen, daß die Leiche noch in relativ gut erhaltenem Zustand ist.«
Bei diesen Worten hatte Kelly gespürt, wie sich ihr Magen umdrehte.
Ein häßliches Kreischen drang aus der Grube, als die Zähne der Baggerschaufel über etwas Hartes schrammten.
»Paß auf!« schrie Cabot. »Du machst den Deckel kaputt!« Ein Stück einer fleckigen Betonplatte kam unter dem Erdreich zum Vorschein.
»Reg dich ab, Martin«, sagte Tabor und manövrierte den Bagger vorsichtig etwas näher an das Loch heran. Er senkte die Schaufel erneut hinunter. Sie kratzte sachte über den Beton. Tabor zog die Schaufel zu sich heran und aus der Grube. Ein großer Teil des Gewölbedeckels wurde sichtbar.
»Paß auf, daß du die Griffe nicht abbrichst«, schrie Cabot.
Kelly, Jeffrey und Seibert befanden sich auf einer Seite des Grabes, Boscowaney und Cabot auf der anderen. Die Sonne war noch immer am Himmel zu sehen, aber sie stand schon sehr tief und war hinter dunklen Regenwolken verborgen. Eine leichte, vom Meer hereinkommende Brise wirbelte dünne Nebelschwaden über den Boden. Cabot hatte eine Verlängerungsschnur um einen der Äste des Ahornbaums geschlungen. Ihr Anblick ließ Jeffrey unwillkürlich an einen Galgenstrick denken, obwohl das einzige, was an ihr herunterbaumelte, die nackte Glühbirne einer Hängelampe war. Ihr Licht fiel direkt hinunter in die Grube, die der Bagger aushob.
Kelly zitterte, mehr vor Anspannung als vor Kälte, obwohl es merklich kühler geworden war. Das behagliche Zimmer im Charlotte Inn mit seiner viktorianischen Tapete schien Welten entfernt. Sie tastete nach Jeffreys Hand und hielt sie fest umklammert.
Es dauerte weitere fünfzehn Minuten, bis die Betonplatte vollkommen freigelegt war. Cabot und Tabor stiegen in die Grube und schaufelten den Rest mit der Hand frei.
Dann stieg Tabor wieder auf seinen Bagger und schwenkte die Schaufel direkt über die
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