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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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übersehen hier etwas«, murmelte Berner, »und es ist so offensichtlich, dass wir es deshalb einfach nicht bemerken. Warum sind das Kreuz in Nussdorf und das hier identisch? Was verbindet die beiden? Wurden hier Messen gefeiert? Aber wo ist der Altar? Es gibt auch keine anderen religiösen oder kultischen Abbildungen hier, keinen Kreuzweg, nur diese Buchstaben an der Wand.« Berner trat näher und schwenkte seine Taschenlampe. Die goldenen Schriftzeichen leuchteten auf. Geschwungene Lettern, die mit dünnen Linien verbunden waren. An jeder Wand einmal die Abfolge:
    B.J.G.R.U.K.J.Z.
    An einigen Stellen, an denen der Verputz abgeblättert war, fehlten Buchstaben, dann wieder hatte sich die Goldfarbe gelöst. Berner verglich die Buchstaben mit denen des Kreuzes, aber es waren andere, zumindest in der Abfolge.
    »Was macht dieses Kreuz hier, in einem Keller?«, dachte der Kommissar laut und schüttelte den Kopf.
    »Es wird Zeit, dass wir gehen«, meinte Burghardt, »sonst schaffen wir es nicht rechtzeitig zum Zentralfriedhof. Und wer weiß? Vielleicht kann uns ja Professor Sina weiterhelfen.«
    Die heiße Luft flimmerte über die weite Fläche der Parkplätze und Straßenbahngeleise vor dem zweiten Tor des Wiener Zentralfriedhofs, dem Haupteingang der gewaltigen Anlage. Die Jugendstilpfeiler des wuchtigen Repräsentationsbaus ragten bedrohlich in den wolkenlosen Himmel, drückten mit ihren Kränzen und Ornamenten Georg Sina auf das Hirn. Zwischen den Obelisken am Ende der weitläufigen Allee tanzten die Sonnenstrahlen über das grünspanige Kupfer der wuchtigen Kuppel der Luegerkirche. Sina stellte den roten Golf einfach irgendwo hin und stieg aus, im Stillen den schwarzen Anzug verfluchend, der jetzt doch wieder so passend erschien …
    Er wanderte hinüber zum Tor und schaute sich um. Grasbüschel wucherten halb vertrocknet aus den Fugen der groben Pflasterung und der Betonplatten. Der Asphalt wirkte besonders an den Nahtstellen dickflüssig und aufgeweicht. Eine Zeile aus Verkaufsständen schmiegte sich an die Umfassungsmauer des Friedhofs aus rotbraunen Klinkerziegeln. Dösend im Halbschatten ihrer Holzhäuschen standen die Händlerinnen und Verkäufer und vergaßen aufgrund der brütenden Hitze sogar, ihre Kränze, Buketts, Kerzen oder Erfrischungsgetränke anzubieten. Auch der Pförtner in seinem winzigen Verschlag würdigte Sina keines Blickes und machte keine Anstalten, sich freiwillig aus dem Wind seines Ventilators zu bewegen.
    Der flächenmäßig zweitgrößte, aber zahlenmäßig größte Friedhof Europas schien verlassen zu sein von allen lebenden Wesen. Die Alleen waren menschenleer, nur die Raben, die ganzjährig hier lebten, zogen majestätisch ihre Kreise oder saßen in den Ästen oder auf den Köpfen der Statuen. Auch waren keine Touristen zu sehen, die wie sonst jeden Tag verzweifelt, die Fotoapparate im Anschlag, durch die Gruppen und Reihen der Grabsteine irrten, auf der Suche nach den Ehrengräbern von Wiens bedeutendsten Komponisten. Vielleicht sind die drei Millionen Toten auf Urlaub gefahren, dachte sich Georg. Warum hatte er das Irina nicht gestern angeboten? Mit ihm nach Grub zu kommen? Sie hätten seinen Freund, den Messerschmied Benjamin, besuchen, Tschak abholen und einen langen Spaziergang machen können und alles wäre anders verlaufen. Stattdessen stand er vor der Direktion der Städtischen Friedhofsgärtnerei und hatte Angst vor dem Geruch nach Formalin, Desinfektionsmittel und kalter Luft. Und vor der toten Irina, die sie wohl hier begraben würden. Gemeinsam mit seiner Hoffnung auf ein kleines Glück.
    Er hörte einen Wagen hinter ihm näher kommen und anhalten. Als er sich umdrehte, sah er Berner und Burghardt aussteigen.
    »Georg! Lange nicht mehr gesehen! Schön, dass du kommen konntest«, begrüßte Berner Sina und wies auf Burghardt, der sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Du erinnerst dich an Kommissar Burghardt?«
    Sina nickte.
    »Hier scheint der totale Wahnsinn ausgebrochen zu sein. Minister werden ermordet, Gewalt herrscht auf den Straßen, emeritierte Professoren werden am Obstbaum aufgeknüpft, Kriminalbeamte bedroht und mit Lkws überfahren. Ausnahmezustand«, erklärte Berner grimmig.
    »Und Irina Sharapova«, fügte Georg leise hinzu. Burghardt schaute ihn prüfend an und wollte etwas sagen, aber Berner hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Was ist mit ihr?« Die Stimme Berners war überraschend sanft und einfühlsam. Ihre Blicke trafen

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