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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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ob uns Rosi an die richtige … hm, sagen wir mal, Adresse geschickt hat«, erklärte Goldmann jetzt und beobachtete die alte Frau genau. Ihr Gesicht verriet nichts von ihren Gedanken.
    »Die beste Adresse wäre Daniel Singer gewesen, aber der kommt nicht mehr in Frage. Armer Daniel«, sagte die alte Frau ruhig und strich wieder über den Plan.
    »Woher wissen Sie das mit Singer?«, entfuhr es Paul überrascht.
    Sarah schüttelte den Kopf.
    »Sie stellen die falschen Fragen, Herr Wagner«, meinte sie bestimmt und ihre Stimme verlor jede Sympathie. »Ich weiß, dass es Ihr Beruf ist, aber bei mir werden Sie die richtigen Fragen stellen müssen, sonst wird unsere Unterhaltung sehr kurz sein. Ich habe immer weniger Zeit, je älter ich werde. Und ich suche mir sehr genau aus, mit wem ich sie verbringe. Auch wenn ich wie in Ihrem Fall nur die zweite Wahl bin …«
    Mit einem Mal spürte Paul die Anwesenheit der vielen Toten und die ganz besondere Atmosphäre des Ortes holte ihn ein. »Ich bin sicher, Rosi hätte uns nie zu Ihnen geschickt, wenn Sie nicht von Ihrem Wissen überzeugt gewesen wäre«, lenkte er ein. »Wir suchen ein verschlüsseltes Dokument, das in vierfacher Ausfertigung existiert. Drei wurden in den letzten Tagen gefunden, eines ist nach wie vor verschwunden. Es handelt sich um einen Text, der vom österreichischen Kanzler Metternich beim Wiener Kongress 1815 an die Vertreter von vier Mächten übergeben wurde. Das noch fehlende Schriftstück überreichte Metternich dem deutschen Politiker Wilhelm von Humboldt. Das ist in groben Zügen unser Informationsstand und wir haben verdammt wenig Zeit, um dieses mysteriöse Dokument zu finden.«
    Sarah sah ihn forschend an, dann wanderte ihr Blick zu Valerie. »Hat Oded Shapiro wieder einmal die Daumenschrauben angezogen?«
    »Woher kennen Sie …«, begann Wagner und bremste sich noch rechtzeitig. »Nein, vergessen Sie es, ich will es gar nicht wissen. Betrachten Sie die Frage als nicht gestellt.«
    Sarah schmunzelte. »Sie lernen schnell, Herr Wagner. Kommen Sie, gehen wir ein wenig spazieren.« Damit stand die alte Frau auf und schritt langsam einen schmalen Weg entlang, der tiefer in den Friedhof führte, unter dem dichten Dach der ungezügelt wachsenden Rhododendren und an efeuüberwucherten Gräbern vorbei.
    Sie standen schweigend an vernachlässigten Grüften und stiegen über dicke Wurzeln, die wie Adern über den Weg liefen. Schließlich kamen sie zu einem monumentalen Grabdenkmal, dessen zentrale Figur ein riesiger, sitzender Engel mit mächtigen Schwingen und einem in Trauer gesenkten Kopf war.
    Sarah blieb davor stehen. »Schauen Sie genau hin, dieser Engel hat etwas Besonderes. Sehen Sie die Schlange, die er in seinen Händen hält? Eine Äskulapnatter, riesengroß, und trotzdem hält er sie so zärtlich und selbst sie scheint zu trauern. Es ist das Grab zweier Ärzte aus Berlin.«
    Paul las die Namen und meinte: »Der Engel ist so schön, das ist das wunderbarste Grabdenkmal, das ich je gesehen habe.«
    »Und doch ist auch hier nichts, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint«, gab sich Sarah kryptisch.
    »Wie meinen Sie das?«, war Wagner irritiert.
    »Schauen Sie genau hin. Die Schlange windet sich um einen dicken Stock. Die Figur des Mannes selbst ist stark und muskulös, gar nicht androgyn und ätherisch wie die anderen geflügelten Grabwächter.«
    »Nein, Sie haben recht«, meldete sich Valerie zu Wort und betrachtete die kräftigen Arme des Trauernden. »Und er trägt einen Lorbeerkranz, wie ein Sieger oder ein großer Poet. Ja, er sieht ein wenig aus wie Dante, nur frisch aus dem Fitnessstudio.«
    Sarah schmunzelte. »Nein, es ist kein Poetus laureatus, kein lorbeergekrönter Dichter mit Hang zu Anabolika, es ist ein Gott. Und ein sehr alter noch dazu. Seinen Namen habe ich Ihnen schon verraten …«
    Mit schelmisch funkelnden Augen beäugte sie ihr Gegenüber. Sie sah aber nur ratlose Gesichter und fuhr daher fort: »Es ist Asklepios, Äskulap, der Gott der Heilkunde mit seinem legendären, schlangenumwundenen Stab. Sein Vater, der Gott Apollon, tötete seine Mutter, als sie mit dem Knaben schwanger war. Der listige Hermes jedoch rettete das Kind während der Leichenverbrennung aus dem Mutterleib und übergab es dem Kentauren Cheiron. Der missgestaltete Cheiron, er war halb Mensch, halb Pferd, nahm das Kind auf, verbarg es vor seinem Vater und unterwies es in der Heilkunst, die er selbst einst von Apollon gelernt hatte. Und schon bald

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