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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Mantel und setzte sich den Hut auf. Die Strumpfhose, ausgestopft mit hellen Tüchern, steckte sie in den Beutel und die kleine Gestalt war verschwunden.
    »Setzen wir uns«, meinte die Unbekannte und klopfte auf den warmen Stein neben sich.
    Paul war sprachlos.
    »Sie sind der … Kontakt von Rosi?«, meinte Valerie verwundert und deutete dann mit einer weit ausholenden Armbewegung auf die alten Springbrunnenbecken mit den riesigen Rhododendron-Büschen dahinter. »Und das hier …«
    »… ist der zweitgrößte Friedhof in Deutschland. Nach dem Krieg bis zum Mauerbau war er nur mit einer Sondergenehmigung zu betreten … Danach abgeschottet, in Bedeutungslosigkeit versunken, vergessen und vierzig Jahre lang vernachlässigt«, vollendete die alte Frau nachdenklich ihren Satz. »Bis zur Wiedervereinigung. Seitdem ist er im Dornröschenschlaf und wartet auf den Prinzen, der ihn wieder wach küsst. Der ideale Platz für ein ungestörtes Treffen unter Freunden.« Sie sah Paul und Valerie an. »Oder mit einem österreichischen Journalisten und einem Major der israelischen Armee.« Ihr Handy piepste leise und sie nahm das Gespräch an, hörte kurz zu und legte mit einem Dank auf.
    »Es ist Ihnen niemand gefolgt, wir sind also ganz unter uns. Der Mann am Eingang ist ein Freund von mir, er hat auch die Tür für Sie offen gelassen. Normalerweise ist sie geschlossen.« Die Unbekannte lächelte. »Ein wenig Organisation hat noch niemals geschadet, wenn man überleben will.«
    »Wer sind Sie?«, fragte Paul ganz unvermittelt und wusste doch zugleich, dass er darauf keine befriedigende Antwort bekommen würde.
    »Nennen Sie mich einfach Sarah, Herr Wagner. Ich bin das lebende Gedächtnis der Stadt Berlin. Rosi ist ihre Hure, ich bin das Gedächtnis. Wir verstehen uns gut. Vielleicht könnte eine ohne die andere nicht überleben? Wer weiß?« Ihr Blick fiel auf einen Grabstein mit einem liegenden Engel, dem der Kopf fehlte.
    »Ich komme gerne hierher, auf diesen Friedhof. So viele, die meine Zeit prägten, liegen hier begraben. Nehmen Sie zum Beispiel den berühmten Schauspieler Joachim Gottschalk. Er entging der Verfolgung durch das NS-Regime durch Selbstmord, gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn. In seinem Testament vermachte er seinen Schädel dem Deutschen Theater, für die zukünftigen Aufführungen des ›Hamlet‹ …«
    Ihre Stimme verstummte und Paul wurde kalt, trotz der Hitze des Nachmittages. »Alas, poor Yorick …«, flüsterte er. Ein verfolgter Schauspieler mit Leib und Seele in seiner letzten großen Bühnenrolle, als verwester Hofnarr Yorick, dachte er und ihn schauderte.
    Sarah nickte stumm.
    Valerie schwieg und schaute in die Ferne.
    »Oder den Hellseher Hanussen, der eigentlich Erik Jan Steinschneider hieß. Er wurde in Ihrer Heimatstadt geboren, in Wien-Ottakring«, ergänzte Sarah. »Er entstammte einer jüdischen Familie und hieß in Wahrheit Chaim mit zweitem Vornamen. Nach seinem kometenhaften Aufstieg ging es steil bergab, als er den Reichstagsbrand vorhergesagt hatte. Ob aus Zufall oder aufgrund von guten Informationen, das konnte man niemals in Erfahrung bringen. Ein dreiköpfiges Kommando der SA erschoss ihn in Tempelhof und ließ seine Leiche in einem Waldstück verrotten. Heute liegen seine sterblichen Überreste nicht weit von hier.«
    Sarah zog einen kleinen Plan aus ihrem Kleid und entfaltete ihn. »Hier ruhen viele große Söhne dieser Stadt, aber auch lange vergessene. Nehmen Sie den Maler Lovis Corinth oder den Widerstandskämpfer Hanno Günther, der aufgrund eines Volksgerichtsurteils im Dezember 1942 hingerichtet wurde. Den Komponisten Engelbert Humperdinck oder den Sinologen Emil Krebs, der über sechzig Sprachen beherrschte und dessen Gehirn man heute noch in der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf aufbewahrt, als eines der Elitegehirne der Menschheit.«
    Ihr Finger fuhr über die Karte und stoppte bei jedem Namen an einem anderen Ort. »Heinrich Zille, der berühmte Berliner Zeichner und Grafiker, der Zeitungsverleger Louis-Ferdinand Ullstein, Werner von Siemens oder der Regisseur der Stummfilme ›Nosferatu‹ und ›Faust‹, Friedrich-Wilhelm Murnau. Ein Who was who Berlins.«
    Sie straffte sich und strich behutsam den Plan glatt. »Aber deswegen sind Sie nicht hierhergekommen, habe ich recht? Rosi hat mir nicht viel erzählt, aber sie hat Sie mir ans Herz gelegt.«
    »Sarah, wir sind auf der Suche nach einem Dokument, einem alten Schriftstück, aber wir sind nicht sicher,

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