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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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»Schauen wir uns den Stock genauer an.«
    Es war, als ob das Skelett den Knauf des Stockes nicht loslassen wollte. Selbst im Tod umklammerte der Zwerg das kostbare Stück, das ihn sein halbes Leben lang begleitet haben musste.
    Schließlich gelang es Burghardt mit sanfter Gewalt, den überraschend schweren Stock aus dem Sarg zu heben. Er wog ihn kurz in der Hand und reichte ihn an Sina weiter.
    »Licht, Tupfer, Tücher, Wasser, Skalpell!«, forderte der Wissenschaftler scherzhaft.
    »Ich kann dir zwei Stofftaschentücher und ein Taschenmesser anbieten«, brummte Berner. »Für archäologische Feldforschung bin ich nicht ausgerüstet.«
    »Damit wird es gehen müssen. Zur professionellen Reinigung brauche ich noch ein leistungsstarkes Ferment …«, meinte Georg, spuckte auf das Metall und begann mit der Säuberung des Knaufes. »Es gibt nur zwei Lebewesen, die einen so brauchbaren Speichel haben, Ratten und Menschen … Aber was sagt uns das über unsere Natur …?«, murmelte er, während er polierte.
    Wenige Minuten später war klar, dass der Silberknauf von Jauerlings Stock ein ziseliertes und graviertes Meisterwerk war. Zwei geflügelte Figuren, Schulter an Schulter, bildeten den Hauptkörper des Griffes. Am Ring der Schäftung, also der Verbindung zwischen Knauf und dem Holzteil des Stockes, war ein Sinnspruch eingraviert.
    »Entweder handelt es sich um ein schweres Tropenholz, oder der Griff ist massiv«, dachte Georg laut nach. »Schaltet alle Taschenlampen ein und richtet sie auf den Knauf.«
    Genau in diesem Moment verlöschte die erste Lampe.
    »Noch zwei«, sagte Berner, »wir sollten uns beeilen, sonst stehen wir bald völlig im Dunkeln.«
    »Was sind das?«, fragte Paul misstrauisch. »Engel?«
    Georg schüttelte den Kopf. »Es sieht auf den ersten Blick so aus und dann doch wieder nicht. Engel tragen andere Gewänder, sie haben keinen Bart.«
    Die Lampen ließen die Züge der beiden Figuren messerscharf hervortreten. Jede für sich war ein Kunstwerk, mit feinsten Details ausgearbeitet und schließlich meisterhaft vereint, fast schon ineinander verschlungen.
    Die kurze Kleidung ließ ihre Beine frei. Die silbernen Figuren glänzten, nur auf den Oberschenkeln gab es noch einige schwarze Flecken. Aber Sina legte das Taschentuch weg und wandte sich zuerst dem Sinnspruch auf dem Ring der Schäftung zu.
    PUPILLUS VENTI NUNTIUM DEFERRET
    »Was so viel heißt wie …?«, fragte Valerie.
    »Der Waisenknabe, oder der Schutzbefohlene, überbringt dem Wind die Botschaft«, sagte Georg, »sinngemäß übersetzt.«
    »Total unverständlich«, grummelte Berner. »Das hilft uns gar nicht weiter.«
    Alle betrachteten den Knauf, ein raffiniertes Rebus aus der Vergangenheit.
    »Vielleicht doch«, sinnierte der Wissenschaftler, »vielleicht doch. Ich bin gerade am Wort ›Wind‹ hängen geblieben. War einer von euch einmal im Turm der Winde in Athen?«
    »Du meinst den sechseckigen Turm mit den Darstellungen der Himmelsrichtungen«, antwortete ihm Berner. »Ich hab vor vier Jahren einen Urlaub in Griechenland gemacht und dabei bin ich auch …« Der Kommissar verstummte und nahm Sina den Stock aus der Hand, drehte ihn und schaute genauer hin. »Ja, ich erinnere mich«, murmelte er.
    »Die beiden Figuren, die den Knauf bilden, sind zwei Figuren aus der griechischen Mythologie, Apeliotes und Boreas, der Ost- und der Nordwind«, stellte Georg fest. »Sie sind zwar geflügelt, haben aber nichts mit Engeln zu tun. Ich kann dich beruhigen, Paul.«
    »Woher weißt du, dass es ausgerechnet Ost- und Nordwind sind?«, erkundigte sich Wagner.
    »Boreas wird immer als bärtiger Mann dargestellt und Apeliotes trägt in seinem Mantel Blumen und Früchte und auf dem Kopf eine Dauerwelle«, scherzte Sina.
    »Und was steht da auf den Figuren?«, fragte Berner und deutete auf die schwarzen Flecken an den Oberschenkeln der beiden mythologischen Gottessöhne.
    »Wo steht was«, gab Georg zurück und nahm Berner den Stock wieder ab.
    »Siehst du es nicht? In den schwarzen Flecken …«, meinte der Kommissar und Sina begann neuerlich zu putzen.
    »Du hast recht, Bernhard, es sind Zahlen«, sagte Georg aufgeregt. »Warte mal …« Er spuckte auf die Figuren und rieb mit dem Tuch.
    »Auf dem Schenkel des Ostwindes steht 16 – 22 – 11 – 76 und auf dem Oberschenkel des Nordwindes 48 – 11 – 56 – 42.«
    »So weit zu unseren Buchstaben- und Zahlengruppen rechts unten auf jedem Dokument«, stellte Paul begeistert fest. »Es ist alles da.

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