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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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eine lebensgroße Jesus-Statue zu, die am anderen Ende des kleinen Friedhofs zwischen Buchsbaumhecken über ein weißes Grab wachte. Die Nervosität war mit einem Schlag wieder da, stieg in ihm hoch und nistete sich in seinem Bauch ein.
    Johann war über das niedrige schmiedeeiserne Geländer gestiegen und stand nun nachdenklich zwischen den Grabsteinen des Fürsten de Ligne und seiner Frau auf der einen und dem Grab der Enkelin auf der anderen Seite, als Paul vorbeiging.
    »Herr Wagner?«, rief ihm Johann leise nach. »Ist Ihnen schon aufgefallen, dass die Gräber hier und das anschließende Kreuz eine Einheit bilden? Der umlaufende Sockel verbindet alle, aber das Geländer selbst umschließt nur die drei Grabsteine.«
    Paul schaute genauer hin und nickte. »Das ist richtig, Johann, aber ich kann beim besten Willen keine Bedeutung daraus ablesen«, meinte er. »Senfgasgranaten kann man sicher auch in Gräbern verstecken, aber wir können nicht alle Grüfte hier aufmachen und suchen. Dazu bleibt uns gar keine Zeit.«
    Johann schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Gräber wären zu klein und zu tief und außerdem sehe ich keine Leitungen wie etwa in Schönbrunn, die das Gas nach außen leiten sollten. Schauen Sie genauer hin. Innerhalb der Umzäunung stehen hohe Bäume und alter Buchsbaum, der bekanntlich sehr langsam wächst. Hier wurde seit Langem nichts verändert.«
    »Soll das heißen, wir sind am falschen Platz, Johann?«, gab Wagner zurück.
    »Ich will damit nur sagen, dass wir außerhalb der Umzäunung der Gräber suchen sollten«, erklärte der schmächtige Mann. »Rund um das Kreuz gibt es nur schnell wachsende Pflanzen, die kaum kniehoch sind. Keine von ihnen ragt auch nur über die Einfassung hinaus, obwohl alles hier verwildert und ungepflegt ist.«
    »Scharf beobachtet«, gab Paul zu, winkte Georg zu und trat an das steinerne Kreuz, das eine lateinische Aufschrift auf seinem Sockel aufwies. Der Wissenschaftler ging in die Knie und wischte das Moos und den Staub von den eingemeißelten Buchstaben.
    »MEMORIAE PRINCIPIS a LIGNE« stand in der ersten Zeile und das einzige Wort »PROPINQUI« in der zweiten. Weiter unten am Sockel war »Renoviert 1911« gleich zwei Mal graviert worden.
    »Du wirst mich sowieso nach der Übersetzung fragen, also hier ist sie: ›Die Erinnerungen an die Fürsten de Ligne‹ steht in der ersten Zeile«, sagte Sina, »mit der zweiten ist es nicht so einfach. Propinqui bedeutet eigentlich so viel wie ›etwas beschleunigen‹ oder ›näher bringen‹, aber im alten Latein auch so etwas wie ›jemand, der nahe ist oder unmittelbar bevorsteht‹.« Sina zeigte auf die beiden Linien. »Die Inschrift könnte daher entweder bedeuten ›Ich habe die Erinnerungen an die Fürsten de Ligne schnell herbeigeführt‹ oder, und ich gebe zu, das klingt noch obskurer: ›Die Erinnerungen an die Fürsten de Ligne des sich Nähernden‹ …«
    Sina strich sich über den Bart und war etwas ratlos. »Wer ist im Anmarsch, der sich erinnern könnte? Der Auferstandene oder gar der neue Kaiser … Sollte tatsächlich hier …« Er verstummte.
    Berner und Eddy traten hinzu, während Johann das Kreuz langsam wie ein lauernder Fuchs umkreiste, immer darauf bedacht, keine Pflanzen zu zertreten.
    »Das Jahr der Renovierung scheint wichtig zu sein«, ergänzte Berner, »das wurde gleich zwei Mal eingraviert.«
    »1911«, las Eddy vor. »Hat sich da irgendetwas Wichtiges ereignet?«
    »Das einzige Datum, das mir einfällt, ist der 21. Oktober 1911. Da heiratet der spätere Kaiser Karl I. in Schloss Schwarzau Zita von Bourbon-Parma.«
    »Ist das nicht der Kaiser, der nie abgedankt hat?«, fragte Paul.
    Georg nickte. »Der letzte österreichische Kaiser, ganz richtig.«
    Alle schwiegen und blickten auf das fast zwei Meter hohe Steinkreuz und auf Johann, der mit seinen Händen Pflanzen beiseiteschob, den Boden untersuchte und dann aufmerksam die Innenseite des Sockels abtastete.
    »Bist du jetzt unter die Pfadfinder gegangen?«, fragte ihn Eddy neugierig.
    Johann blickte auf. »Chef, würden Sie sich mal gegen das Kreuz lehnen, und zwar an der Seite der Inschrift? Sie sind der gewichtigste von uns allen.«
    Eddy stieg zögernd über den niedrigen Sockel und blickte erst unsicher zu dem Kreuz hinauf und dann zu Johann, der ihm aufmunternd zunickte. Schließlich lehnte sich der Exringer mit seinem ganzen Gewicht gegen den Stein. Es knirschte leise und Paul sah bereits vor seinem geistigen Auge Eddy samt

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