Narr
gefälligst!«, brüllte der Zugchef sie an. »Steht den Einsatzkräften nicht im Weg herum!« Er wischte sich mit der flachen Hand die Tränen aus dem Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, dass nicht nur die Bahntrasse, sondern auch die Nebengebäude des Schlosses von den Explosionen schwer in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die Südfassade der Wirtschaftsgebäude, die direkt neben dem Bahndamm standen, war umgeblasen worden wie ein Kartenhaus im Sturm, eine große Scheune bestand nur mehr aus einem Holzhaufen. Sogar der Fußboden war stellenweise aufgerissen worden und gab nun den Blick auf ein darunter verborgenes Gewölbe frei, von dem seit Jahrhunderten viele Geschichten im Dorf kursierten. Jeder hatte irgendwann davon gehört, aber mit eigenen Augen hatte es noch keiner gesehen. Die Anrainer scharten sich um die Schneise aus rotem Ziegelschutt und zerfetzten Balken und lugten in die Schwärze der Kavernen, die erstmals seit über zwei Jahrhunderten wieder vom Tageslicht erfüllt wurden.
»Mein Gott«, sagte einer der Schaulustigen, »die sind ja so groß, dass ein Reisebus hineinfahren könnte.« Die anderen nickten ergriffen. Der Eingang zu der legendären Kelleranlage war riesig und beeindruckend.
Nach einem Blick auf die rotierenden blauen Lichter der Einsatzfahrzeuge und die Rettungskräfte mit ihren roten Jacken, die wie aufgeschreckte Ameisen über Wiesen und Bahndamm rannten, eilte der Zugchef zurück zu den Waggons.
Die Franz-Josefs-Bahn hatte auf einer Länge von fünfhundert Metern aufgehört zu existieren.
Charlottenburg, Berlin/Deutschland
D as Vereinslokal des »Berliner Unterwelt e.V.« lag in einer ruhigen Seitenstraße im Berliner Bezirk Charlottenburg und war früher einmal ein Milchgeschäft gewesen. Mit Wolle und Marzin, die vorsichtig die schwere Holzkiste hereinschleppten und sie mitten in den ehemaligen Laden stellten, war der Verein vollzählig. Sie waren die einzigen Mitglieder, aber auf dem Papier gab es noch ein paar andere: Tanten und Nichten, entfernte Verwandte, angeheiratete Neffen dritten Grades, die weder Marzin noch Wollner jemals gesehen hatten. Der Steuerberater hatte den Steuerbeamten überzeugt, dass die Konstruktion nicht nur völlig legal, sondern auch überaus gewinnbringend sein konnte, wenn man die Spesen abschreiben und noch ein paar nebensächliche Kleinigkeiten beachten würde.
»Wir stinken wie eine Horde Iltisse, die sich durch einen Haufen Pferdemist gegraben haben und dabei auf eine Schicht Guano getroffen sind«, stellte Wolle naserümpfend fest. »Mir ekelt vor mir selbst. Die Kiste kann kurz warten, die Dusche nicht.«
Peter Marzin musste zugeben, dass er recht hatte. »Wollen wir eine Münze entscheiden lassen, wer zuerst geht?«
Wolle tippte an seine Stirn. »Vergiss es! Alter vor Schönheit, ich bin schon weg.« Er verschwand blitzschnell, und während Marzin begann, die Rucksäcke auszupacken und die Ausrüstung zu trocknen, hörte er das Rauschen des Wassers aus dem engen Badezimmer, das sie in ihrem Vereinslokal eingerichtet hatten.
Keine halbe Stunde später kauerten die beiden Männer müde, aber sauber vor der fast schwarzen Kiste, von der eine seltsame Aura auszugehen schien. Sie wirkte in dem hell erleuchteten Raum irgendwie bedrohlich und fehl am Platz.
»Gehen wir schlafen oder blasen wir zur Attacke auf die Schlösser?«, fragte Marzin und war eher geneigt, die erste Option zu wählen.
»Das Ding hätte uns fast das Leben gekostet«, stellte Wolle nüchtern fest. »Jetzt will ich wissen, was so Wichtiges drin ist, bevor ich den Sonntag verschlafe. Vielleicht sind wir ja reich und ich brauche ab morgen nie wieder auf dem Finanzamt anzutanzen?«
»Träum weiter und bereite dich noch auf ein paar lange Jahre vor, Nichtstuer«, gab Marzin zurück. »Obwohl ich dich wirklich nicht vermissen würde. Im Amt, meine ich«, beeilte er sich hinzuzufügen, als er Wollners Gesichtsausdruck sah.
»Reichen Schlupflochsuchern wie dir müsste man schnellstens das Handwerk legen! Mir als schwer arbeitendem Beamten gebührt endlich einmal ein Bonus in Form einer Kiste Gold zum Beispiel …«, meinte er mit leuchtenden Augen. Seine grauen Haare standen nach der Dusche in alle Richtungen und Marzin entdeckte bei seinem Freund eine entfernte Ähnlichkeit mit Einstein. Nur der Bart fehlte.
»Klar, ein paar Goldbarren, am besten gleich auf einem Bett aus Edelsteinen. Wären Diamanten recht?«, stichelte Marzin und suchte nach einer Metallsäge in dem
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