Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
Geschwindigkeit zu einer festgesetzten Tageszeit verspeisen sollte, selbst wenn man keinen Hunger verspürte, war ihr bis heute unverständlich.
Still schlich sie Ariane nach, die zielstrebig einen Gang mit grün gestrichenen Wänden entlang klapperte. Berenikes bequeme Treter quietschten auf dem Linoleum, das so gelblich grün wirkte wie herausgekotzter Magensaft. Irgendwo schrien Kinder durcheinander, vielleicht hinter einer der vielen Türen entlang des Ganges. Krakelige Zeichnungen zierten die Wände. Eine davon zog Berenike besonders an: Bedrohliches Schwarz, Gestalten, denen man im echten Leben niemals begegnen wollte, um nichts in der Welt. Sie erinnerte sich an ihre eigenen dunklen Bilder. Und an die Kritik der Lehrerinnen, die bunte Bilder und fröhliche, unbeschädigte Kinder bevorzugten. Tausendmal hatte ihre Mutter mit ihnen reden müssen. Tausendmal hatte man Berenike mit lieblicher Stimme dazu animieren wollen, andere, harmlose Dinge zu zeichnen. Doch wie, mit einem Vater im Haus, der überall Skelette sah, Menschen, die gelebt hatten, vor ´38 in Wien, Menschen, die er sterben gesehen hatte, der jüdische Bub, der Fred Stein gewesen war. Das alles, erzählte er wieder und wieder, forderte ihre Aufmerksamkeit. Wie sollte da was anderes herauskommen auf ihren Bildern als Tote, immer wieder Tote. Hier in diesem alten Kloster fühlte sie sich klein, wie damals als Kind, das sich die Welt und ihre Grausamkeiten nicht erklären konnte.
Endlich waren sie vor einer Glastür angelangt, auf der in bunten Buchstaben »Verwaltung« geschrieben stand. Ariane griff nach der Türklinke, rüttelte – erfolglos, es war abgeschlossen. Sie streckte die Hand nach einem Klingelknopf neben dem Türrahmen aus und drückte. Berenike fummelte an der Kamera und richtete das Objektiv auf die verschlossene Tür.
Etwas polterte hinter ihnen. Berenike fuhr herum. Niemand zu sehen. Da, wieder ein Geräusch – ein Knarren diesmal. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass das Eingangstor im stärker gewordenen Wind knarrte. Womöglich kam jetzt Föhn auf? Auch die Fenster ächzten leise in den Balken.
»Sie wünschen?« Eine hohe laute Stimme erklang hinter ihr. Die Stimme wirkte gepresst und ließ auf eine ältere Frau schließen. Doch als Berenike sich umdrehte, erkannte sie ein schwammiges männliches Gesicht, das zu einem Mann im schwarzen Priesterhabit gehörte. Seine Haut war rosig und weich wie die eines Kindes. Er hatte ein kleines Fenster in der Glastür geöffnet. Sein linkes Augenlid zuckte nervös.
»Mein Name ist Ariane Meixner, ich bin Journalistin und möchte zu Herrn Stettin.«
Berenikes Finger fuhren unruhig über den Auslöser der Kamera. Sie richtete den Sucher auf den Schwarzgekleideten. Der hob abwehrend eine Hand. Eisiger Luftzug drang durch das Fensterchen und ließ Berenike frösteln. Sie zog ihren Schal mit einer Hand enger um den Hals.
»Bedaure, der Herr Pfarrer ist in Ungarn zur Kur und darf nicht gestört werden. Sein altes Rückenleiden, die ungarischen Thermalquellen helfen ihm.« Missbilligend sah er Ariane an. »Sie müssen einen Termin vereinbaren, wenn Sie zu ihm wollen!«
»Es gibt Vorwürfe gegen Personen dieses Heims, über die ich mit dem Herrn Pfarrer Stettin persönlich sprechen möchte«, antwortete Ariane und ging gar nicht auf die Worte ihres Gegenübers ein. »Er wird mir dazu Rede und Antwort stehen, ich bin sicher.«
»Das muss er selbst entscheiden. Fragen Sie an, wenn er zurück ist.« Der Schwarzgewandete griff nach dem Fenster und machte Anstalten, es zu schließen.
»Moment!« Rasch streckte Ariane einen Arm durch die Öffnung.
Der Mann hielt inne und verzog die Mundwinkel nach unten. »Was ist denn noch? Haben Sie keine Manieren?«
»Er wird mich anhören, ich bin sicher. Sonst drucke ich die Missbrauchsvorwürfe, ohne ihm die Chance zu einer Stellungnahme zu geben.«
Der schwammige Typ sah sie eine Sekunde lang mit offenem Mund an. Sein Lid zuckte heftiger, er blinzelte ein paar Mal, doch das Zucken blieb. »Bedaure, der Herr Pfarrer ist nicht hier. Akzeptieren Sie das und gehen Sie, bitte.«
Ariane maß ihr Gegenüber mit einem langen Blick. »Na dann.« Sie nickte dem rosigen Priester grußlos zu und trat den Rückzug an. Berenike folgte ihr.
Sie blieb auf den Stufen vor dem Tor stehen. Der heftige Wind wirkte beim ersten Eindruck warm, fuhr ihr jedoch so heftig unter die Kleidung, dass sie schauerte. »Und jetzt?«, fragte sie.
»Rauchen wir eine.«
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