Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
zurück zur Straße. Schneehäufchen lagen herum, der Weg war schon eine Weile nicht geräumt worden. Ein leises Rascheln und Rauschen war zu hören, Berenike sah sich um. Es lag wie ein Raunen in der Luft zwischen den eng gepflanzten Büschen, die unter der nassen Schneelast ächzten. Sie drehte sich um, aber Saller hatte die Tür schon geschlossen. Vielleicht Autolärm von weiter weg. Der einsame Schrei einer Amsel konnte Berenikes Unwohlsein nicht überdecken. War da nicht eben eine Bewegung hinter ihr gewesen? Aber nein, niemand da. Auch der Vogel war verstummt. Vielleicht hatte sie den Schlag seiner Flügel wahrgenommen. Ein Stück weißer Vorhang wehte im oberen Stockwerk von Sallers Haus aus einem halboffenen Fenster.
Sie versuchte, die aufsteigende Panik abzubeuteln und trat aus dem Vorgarten hinaus auf die Straße. Am Kammerhof vorbei ging sie die paar Schritte zur Bushaltestelle bei der Post. Es war an der Zeit, Stettins sogenanntem Familienhaus in Sankt Kilian einen Besuch abzustatten. Nach allem, was sie darüber an Widersprüchlichem gehört hatte, wollte sie sich bei einem Lokalaugenschein eine eigene Meinung bilden. Sallers Worte hatten sie stutzig gemacht, dazu die Informationen von Tom. Die offenbar enge Beziehung des Therapeuten zu Stettin, die Tätigkeit als psychologischer Betreuer für die Jugendlichen des Internats. Berenike hatte keinen besonders guten ersten Eindruck von dem Mann gewinnen können. Sie schauderte, wenn sie an Sallers Blick dachte, der ihrem immer ausgewichen war. Sie mochte Leute nicht, die ihr nicht in die Augen schauen konnten. Erst hatte sie dies für eine Art Schüchternheit des Therapeuten gehalten. Aber je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr war sie davon überzeugt, dass hier irgendwas nicht stimmte. Womöglich hatte Saller mit dem Geheimnis, das die Toten umgab, zu tun. Sie hoffte, Bonifaz Stettin persönlich sprechen zu können. In ihrem Kopf ging alles durcheinander, ihre eigenen Erlebnisse, das Erfahrene. Was war wirklich los? Ein Knarren ließ sie innehalten. Sie war auf Höhe der alten Pfarrkirche. Noch in Gedanken betrachtete sie das große hölzerne Portal. Wieder ein Knarren, Wind heulte auf und trieb Schneeflocken vor sich her. Sie rieb die kalten Hände aneinander und drückte kurz entschlossen die Türklinke nieder. In dem geräumigen Kirchenschiff war es dermaßen kalt, dass sich ihr Atem weiß wölkte. Sie sah sich um – hier war niemand außer ihr. Einen Moment verharrte sie vor einem Seitenaltar mit Madonnenbildnis, um zu überlegen, was sie bisher erfahren hatte. Es hatte vier Tote gegeben, vier junge Männer – alle waren sie nackt oder wenig bekleidet in der eisigen Winterkälte gefunden worden. Der erste, der Jäger Karl Wengott, im Eis des Ausseer Sees, der zweite, der Schispringer Simon Einstatt, an der Schischanze in Bad Mitterndorf und schließlich Daniel und Paul, die Toten Nummer drei und vier, unter einer Lawine am Grundlsee. Dazu der Brief, den Karl Wengott geschrieben hatte, in dem er von erlebtem Missbrauch in Sankt Kilian berichtete. Was war in Sankt Kilian wirklich los?
Sie musste vor Ort weiter sehen. Ihr Blick glitt über die Darstellungen der Heiligen rund um die Madonna. Der Wind hörte nicht auf zu heulen. Wieder knarrte etwas. Berenike verließ die kleine Kapelle, ging zurück zum Eingang. Sie konnte niemand anderen sehen, dabei war sie sich sicher gewesen, dass die Tür in den Angeln gequietscht hatte. Bienenwachsgeruch lag in der Luft.
In Gedanken versunken eilte sie Richtung Bushaltestelle, dabei drehte sie sich immer wieder um. Sie überlegte, Markus anzurufen, den Bergretter, der sie auf Daniels und damit Sallers Spur gebracht hatte. Sie hatte schon das Handy in der Hand, zögerte aber. Sie kannte den jungen Bergretter nicht gut genug, um ihn richtig einzuschätzen. Was, wenn er mit den Schuldigen unter einer Decke steckte? Nein, sie wollte endlich die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit herausfinden.
Stattdessen rief sie Ariane an und bekam von der Journalistin wie gewünscht die Adresse von Stettins sogenanntem Familienhaus, dem Waisenheim, das die Stiftung des Pfarrers betrieb.
»Am Waldesgrund 91, lautet die Adresse. Das ist in der Einschicht zwischen Sankt Kilian und Bad Mitterndorf«, erklärte Ariane. »Was hast du dort vor?«
»Ich habe einige Neuigkeiten erfahren.«
»Und da willst du zum Familienhaus? Sei vorsichtig.«
»Ich bin nicht blöd, Ariane. Ich brauche nur einen Vorwand, um hineinzugelangen.«
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