Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
hören.
»Wie seltsam«, meinte Berenike. »Ist hier nicht auch eine Schule?«
»Ein Internat mit Schulbetrieb, genau.«
»Warum hört man dann keine Stimmen und nicht einmal Schulglocken? Kinder lachen normalerweise und sind laut. Und Lehrer schreien herum.«
»Du hast recht. Was ist los hier? Warum ruft uns der Junge, wenn er dann doch wieder flüchtet?«
»Wir müssen ihn finden, womöglich braucht er Hilfe.« Berenike schirmte ihre Augen mit einer Hand ab. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel – sie sah etwas Blaues über den Schnee flitzen. Es war der Bub, der hinter den Häusern hervorgekommen war und sich auf den dichten Wald zu bewegte. Er humpelte leicht, doch seine Füße hinterließen weit auseinander liegende Spuren in der unberührten Schneedecke, wenn auch in ungleichem Abstand.
Ein rascher Blick zur Verständigung und sie rannten ihm hinterher. Sein Keuchen wurde leiser, der Abstand zu ihm größer. Ariane fiel zurück, rang keuchend um Luft.
»Verflucht«, murrte sie, »ich rauch zuviel, seit ich zurück bin.« Sie blieb stehen, ließ forschend den Blick über den Waldrand gleiten. »Da!« Sie zeigte auf Buschwerk. Etwas schien sich zu bewegen. Schon marschierte die Journalistin los, bog Zweige zur Seite, die unter der Schneelast ächzten und sie rieselnd abgaben. Und über all dem schien nach wie vor die Wintersonne.
Tief im Schnee unter den Sträuchern saß der Bursche, als wolle er sich ein Iglu bauen, dabei sah er sich ständig um und war wie auf dem Sprung.
»Tut dir was weh?«, fragte Ariane.
»Keine Angst, wir wollen dir helfen.« Berenike ging neben dem Buben in die Knie. »Wer bist du?«
»Niku.« Der Kleine sah von unten her zu Ariane auf, während er mit den Händen patzigen Schnee aufschaufelte.
»Ich bin Ariane und das ist Berenike. Niku, was ist mit dir? Brauchst du Hilfe?«
Nikus braune Augen waren wie Wärmepole, die das Eis zum Schmelzen brachten. Berenike lächelte ihn an. Der Bub griff sich kurz an die Hüfte, sah Ariane lange prüfend an, während er auf die Knie ging und aufstand. Übergangslos fing er zu weinen an, humpelte ein Stück, ließ sich in den Schnee fallen. Er schluchzte immer heftiger, unterdrückte dabei jedes Geräusch.
Ariane kramte in ihrem Mantelsack und förderte ein Päckchen Taschentücher zu Tage, das sie dem Buben unter die Nase hielt. Der Kleine griff danach, griff daneben, die Packung fiel in den Schnee, sank halb darin ein. Er bückte sich, griff danach, es rutschte ihm aus der Hand. Endlich hatte er ein Taschentuch heraus gefischt und schnäuzte sich, blies dabei die Backen auf, alles ziemlich leise. Er zog den Rotz hoch und sah sie kurz an, dann glitt sein Blick in die Ferne, wo die weißen Bergspitzen in der Sonne leuchteten.
»Also, was tut dir weh? Die Hüfte?«
Der Kleine nickte, machte einen Ausfallschritt, wodurch er die Wand aus Schnee, die er aufgeschaufelt hatte, wieder niedertrat. Er rieb sich die Augen.
»Na, komm mit, bevor du hier erfrierst.« Ariane streckte ihm eine Hand entgegen, er zögerte, dann ergriff er sie. »Ein Iglu ist keine Lösung, hm? Was ist so furchtbar, Kleiner?«
»Darf ich mit dir kommen? Du hast ein Auto, oder? Du musst mich retten, bitte. Ich will nachhause zu meiner Mama.«
»Wie, zu deiner Mama? Ich dachte, du lebst hier im Familienhaus? Bist du kein Waisenkind?«
»Nein.« Er schüttelte heftig den Kopf, dass die dunklen Locken flogen. »Ich will weg von hier.« Er schnaufte wieder, drückte sich das Taschentuch an die Nase. »Hier nix gut.«
Forschend betrachtete Ariane das Kind. »Hat dir jemand was angetan?«
Der Kleine öffnete seine Jacke und schob den Pullover über die Arme nach oben. Berenike stockte der Atem. Die Haut des Buben war blass, sah aus wie schlecht durchblutet, an vielen Stellen braun verschorft, an anderen blauschwarz verfärbt.
»Okay, wir nehmen dich mit, Niku. Auf meine Verantwortung.« Ariane wirkte nachdenklich, während er den Pullover über die Hüften zog. »Allerdings steht mein Auto vor dem Eingang.«
Niku sah grimmig drein. »Nix gut«, wiederholte er seine Worte von vorher. Während er sich den Schnee von der Jacke klopfte, sah er viel erwachsener drein, als er war. »Ich möchte zu Mama«, flüsterte er. »Die Mama ist lieb und es ist immer warm. Nicht wie hier. Mir ist kalt. Immer ist mir kalt.« Ein Schluchzer brach sich Bahn, es schüttelte ihn, er schlang die kurzen Arme um den kleinen Leib.
Berenike riss sich ihr Tuch vom Hals, gab es ihm. »Hier, nimm,
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