Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
Ariane ging zu ihrem Wagen und schloss auf. Sie legte ihre Tasche ins Auto, schlug die Tür zu und zog eine Packung Zigaretten aus ihrem Mantelsack. »Möchtest du?« Sie hielt die Packung Berenike geöffnet unter die Nase.
»Danke, nein, ich rauche schon lange nicht mehr.« Fast bedauerte Berenike das in einer Situation wie dieser. Rauchen hätte jetzt beruhigend gewirkt, so durcheinander wie sie sich fühlte. Nachdenklich sah sie Ariane in die Augen.
»Hier.« Ariane hielt ihr einen Flachmann unter die Nase.
»Was ist das?«
»Whiskey. Zur Stärkung.«
»Na schön.« Berenike nahm einen kleinen Schluck. Eine weitere heftige Windböe zerzauste ihr von hinten die Haare, sodass sie einen Moment lang wie blind war. Berenike steckte die Kamera ein und raffte die schwarzen Strähnen mit beiden Händen zusammen, so gut das ging. »Wieso hast du–«
»Schsch!« Ariane warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Wind und schützte die Zigarette mit beiden Händen, während Berenike ihr Feuer gab. Endlich brannte der Glimmstängel. Ariane machte ein paar vorsichtige Schritte in Richtung der Nebengebäude, die sich zum Waldrand hin drängten.
Berenike schlich ihr auf dem holprig gefrorenen Boden nach. Nirgends war jemand zu sehen, auch die Burschen von vorhin waren verschwunden. Der Wind pfiff um die Hausecke und raunte in den Ästen der hohen Fichten, die ihre Schneelast abwarfen.
»Stellen wir uns hinter die Hausecke«, schlug Ariane vor, »vielleicht sind wir dort besser geschützt.«
Etwas raschelte, als ginge wer über welkes Laub. Ariane stockte. Wieder ein zischelndes, undefinierbares Geräusch. Dann rief jemand leise, aber ungemein dringlich: »Hallo!«
Sie sahen sich fragend an. Ariane schlich zur nächsten Ecke, Berenike ihr nach. Eine Scheune lehnte sich an das Hauptgebäude, dahinter befand sich eine Holzwand. Gerümpel lag davor; ein altes Auto, dem sämtliche Reifen fehlten, rostete unter einem morschen Holzdach vor sich hin.
Sie tasteten sich über das matschiger werdende Eis voran, näher in die Richtung, aus der das Rufen erklungen war. Etwas unter Berenikes Fuß knackste. Sie sah zu Boden. Etwas griff nach ihrem Knöchel.
27.
Ob ich morgen leben werde, weiß ich freilich nicht.
Aber daß ich, wenn ich morgen lebe,
Tee trinken werde, weiß ich gewiß.
(Gotthold Ephraim Lessing)
Schmerz durchzuckte Berenike vom Fuß bis in die Kopfhaut. Sie lag schneller im Dreck, als sie schauen konnte. Dafür bekam sie aus dieser Perspektive einen weiten Ausblick auf den strahlend blauen Himmel über ihr. Sie rappelte sich auf, sah sich um.
»Ariane?«
Stille. Stattdessen erklang wieder das Flüstern.
»Hallo!« Leichter Akzent, nicht zuordenbar. Berenike sah auf – direkt in zwei braune Kulleraugen. Ein kleines, dunkelhäutiges Gesicht schob sich langsam hinter dem Auto hervor.
»Freunde?«, flüsterte der Bub und kroch ganz heraus. Er steckte in einer zu großen, abgewetzten, blauen Schijacke, die über und über mit Dreck besudelt war. Während er sie prüfend ansah, stahl sich ein schiefes Grinsen in sein Gesicht, eine Zahnlücke gab ihm ein verschmitztes Aussehen. Berenike stand auf, wischte sich den Dreck von der Hose, so gut es ging. Elendes Tauwetter! Da hinten war auch Ariane, nur die Kehrseite war von ihr zu sehen, sie verschwand bereits halb um die Ecke der Scheune. Ihre Zigarette glühte ein letztes Mal auf.
»Hej!«, rief Berenike. Ariane fuhr herum, legte einen Finger an die Lippen. Langsam schlich sie zurück zu Berenike, nahm einen letzten Zug, warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus, hob ihn auf, steckte ihn ein.
Der Bub sah von unten her zu ihnen auf, sein Blick wanderte von einer zur anderen. Er mochte zehn sein, elf bestenfalls.
»Wer bist du?«, fragte Berenike.
Der Kleine schüttelte den Kopf, drehte sich um, wieder ernst. Er griff sich an die Hüfte.
»Was ist los? Hast du dir wehgetan?«, fragte Ariane. »Und wieso attackierst du uns?« Sie griff nach seiner Schulter, doch der Bub hatte sich weggeduckt, und lief davon. Berenike griff nach ihm, erwischte nur den Stoff seiner Jacke. Durch ein Loch unter der Achsel sah man fahlbraunen Strick, als der Bub sich mit einer einzigen Bewegung losriss – und …
… weg war. Aber wohin so schnell?
Berenike sah Ariane fragend an. Die Sonne blendete in der verschneiten Landschaft, glitzerte auf dem Schmelzwasser. Warmer Wind fuhr wieder auf, außer seinem Heulen war kein Laut zu
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