Narrentod
im Dürrenast nahe dem Schilfgürtel. Noch immer. Er öffnet die Tür.
»Hallo, Hanspudi. Frau Barben ist noch nicht da. Komm rein. Marie-Josette ist leider nicht zu Hause .«
»Dann lasse ich sie grüßen. Danke für das Gastrecht. Ich glaube, dass die Aussprache mit Lilo Barben im privaten Rahmen fruchtbarer sein wird als in einer Beiz .«
»Tu ich gerne. Wenn es uns ein Stück weiterbringt«, meint Jüre. Dann verschwindet er in der Küche und kehrt mit einem hölzernen Tablett zurück, auf dem eine Flasche Mineralwasser und drei Gläser stehen. Während er die Gläser füllt, schaue ich mich um. Es fällt auf, dass mehrere Fotos seiner Frau in kleinen, hübschen Bilderrahmen herumstehen. Ein Bild, das neben dem Notebook auf einem antiken Sekretär postiert ist, zeigt sie blutjung und glücklich strahlend im Schneidersitz vor einem schäbigen Zelt. Es erweckt den Anschein, zwischen zwei geparkten Rostlauben, mitten auf einem Parkplatz aufgestellt worden zu sein. Ein merkwürdiges Erinnerungsstück.
Jüre folgt meinem Blick und meint: »Das ist mein Schatz. In der ersten Woche unserer Bekanntschaft.«
»Du mit deinem Schatz. Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt ?«
Jürg hat bisher noch auffallend wenig von seinem Privatleben preisgegeben. Umso mehr überrascht mich jetzt seine Bereitschaft, Auskunft zu geben. Hat er möglicherweise nur auf meine Aufforderung gewartet? Fast macht es den Anschein. Wir haben eine halbe Stunde Zeit.
»Marie-Josette und ich. Die Umstände unserer Bekanntschaft sind tatsächlich etwas sonderbar. Ich war vor sieben Jahren allein im Süden Frankreichs unterwegs. Für ein paar Tage habe ich mich mit meinem kleinen, violetten Iglu-Zelt auf einem einfachen Campingplatz eingemietet. Zwischen Camping und Strand lagen rund zwei Kilometer. Ich schlenderte täglich bei größter Sommerhitze neben hupenden Autos über die staubige Landstraße zum ersehnten Strand. Dieser wurde durch eine lang gezogene Düne verdeckt. Hätte ich das tiefblaue Meer vor Augen gehabt, wäre mir der schweißtreibende Marsch bestimmt leichter gefallen.
Vor den Dünen lag ein ausgedehnter Parkplatz, auf dem ich all die verfluchten Karossen wiederfand, die mich kurz zuvor eingestaubt hatten. Vom Parkplatz waren es nur noch ein paar Schritte zum Meer. Diese paar Schritte bewogen offenbar eine Mehrheit der Ausflügler, sich dicht gedrängt im nächstgelegenen Strandabschnitt breitzumachen.
Ich suchte ruhigere Gefilde. Dazu musste ich ein paar Hundert Meter dem Saum der Brandung in Richtung eines entlegenen Bambushaines folgen. Je mehr ich mich vom Klüngel der kinderreichen Familien mit ihren weißen Campingstühlen, wackeligen Klapptischchen und ausladenden Sonnenschirmen entfernte, desto häufiger waren die Begegnungen mit entspannten Vertreterinnen und Vertretern der frankofonen Freikörperkultur. Das Ziel lohnte also durchaus den Weg.
Dort, wo ich mich schlussendlich niederließ, verschwanden den ganzen Tag über Nackedeis beiderlei Geschlechts im Bambuswäldchen, um nach geraumer Zeit mit lässiger Geste und seligem Lächeln zurückzukehren, ins hüfttiefe Wasser zu steigen und sich ungeniert den Schritt zu spülen. Die Anpassung an die örtlichen Gepflogenheiten fiel mir leicht. Ich habe während dieser vier Tagen mit Sicherheit mehr erotische Träume verwirklicht, als in den vergangenen vier Jahren zusammen.
Am Abend des letzten Ferientages schlenderte ich jedenfalls höchst befriedigt den Strand entlang Richtung Parkplatz zurück. Dabei fiel mir eine große, schlanke Brünette auf, die so dicht am Wasser lag, dass ich entweder über sie hinwegsteigen oder um sie herumgehen musste. Sie lächelte einladend, fand ich. Ihre grünbraunen Augen strahlten. Ich suchte aber keine weiteren Abenteuer, nicht für diesen Tag und auch nicht für diese Nacht. Am nächsten Morgen wollte ich abreisen. Es lohnte sich also kaum mehr. Ich machte einen Bogen um das holde Geschöpf und setzte meinen Rückzug ungebremst fort.
Umso erstaunter war ich dann, als ich ein paar Minuten später den Parkplatz erreichte. Dort erwartete mich nämlich die bezaubernde Frau mit hinreißendem Lächeln, lässig an die Vorderhaube eines alten, grauen Fiats gelehnt, wie eine langhaarige Schönheit am Automobilsalon in Genf. Wie konnte sie schon da sein? Lag sie nicht eben noch hinten am Strand? Existierte sie zweimal?
Es gab nur eine Erklärung: Sie musste, nachdem ich sie so schnöde umzirkelt habe, sofort aufgebrochen und im Schutz
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