Naschkatze
beste Möglichkeit, sein Wort zu halten, besteht darin, es gar nicht erst zu geben.
Napoleon I (1769-1821), französischer Kaiser
W ährend ich Maß nehme, weine ich.
Dagegen kann ich nichts machen. Ich bin so verdammt sauer.
Zum Glück ist niemand daheim. Zumindest glaube ich das.
Und so quietsche ich auf, falle erschrocken nach hinten, und das Maßband fliegt davon, als Chaz mit schläfriger Miene aus seinem Zimmer kommt, ein zerfleddertes Taschenbuch in der Hand, und fragt: »Was treibst du denn da?« Er greift nach meinem Arm. Aber es ist zu spät. Ich liege flach auf dem Rücken am Boden seines Wohnzimmers. »Bist du okay, Lizzie?«
Ich gebe dem schiefen Parkettboden die Schuld an meiner peinlichen Lage. Ganz im Ernst. »Nein, ich bin nicht okay«, schluchze ich.
»Was stimmt denn nicht?« Chaz lacht nicht direkt . Aber seine Mundwinkel zucken unübersehbar.
»Das ist nicht komisch.« Inzwischen hat mir das Leben in Manhattan meinen Humor geraubt. Oh, sicher, alles ist schön und gut, wenn ich mit Luke im Bett liege oder wenn wir uns auf der Couch seiner Mom aneinanderkuscheln und uns die »Zuschauer-Stripshow« auf ihrem Plasmabildschirm
ansehen (stillvoll hinter einem echten Gobelin aus dem sechzehnten Jahrhundert verborgen, wenn er nicht benutzt wird, einem fabelhaften Kunstwerk, das eine idyllische ländliche Szene zeigt).
Aber sobald er zur Tür hinaus und zur Universität geht und mich jeden Wochentag von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags allein lässt, fühle ich mich total verunsichert. Dann wird mir bewusst, was mir droht – ich werde in Manhattan genauso scheitern wie Kathy Pennebaker. Zwischen uns besteht nur ein einziger Unterschied – ich leide nicht an einer Persönlichkeitsstörung.
Jedenfalls wurde keine klinisch diagnostiziert.
»Sorry.« Chaz schaut auf mich herab und versucht, nicht zu grinsen. »Würdest du mir verraten, warum du mitten am Nachmittag in meine Wohnung schleichst? Weil Luke dich im Apartment seiner Mom nicht weinen lässt?«
»Nein«, sage ich und bleibe am Boden liegen. Es tut so gut, ein bisschen zu weinen. Außerdem halten Shari und Chaz ihre Bude makellos sauber. Also muss ich nicht befürchten, mein Kleid schmutzig zu machen. »Shari hat mir deinen Ersatzschlüssel gegeben, damit ich Maß nehmen kann – für den Sofabezug und die Vorhänge, die ich nähen will.«
»Also nähst du einen Sofabezug und die Vorhänge für uns.« Darüber scheint er sich zu freuen. »Cool.« Während ich weiter weine, hört er auf, sich zu freuen. »Oder vielleicht doch nicht so cool, wenn du deshalb heulst.«
»Nicht deshalb.« Ich wische mit den Handrücken über meine Augen. »Sondern weil ich ein Loser bin.«
»Okay, jetzt brauche ich einen Drink«, seufzt Chaz. »Willst du auch einen?«
»Mit Alkohol lässt sich das Problem nicht lösen«, jammere ich.
»Nein«, stimmt er zu. »Aber ich habe den ganzen Nachmittag Wittgenstein gelesen. Wenn ich was trinke, werde ich nicht mehr das Gefühl haben, dass ich mich eigentlich umbringen müsste. Also, willst du auch was oder nicht? Ich denke an Gin Tonics.«
»Ja...« Nun kriege ich einen Schluckauf. Vermutlich wird mich ein bisschen Gin aufbauen. Bei Grandma funktioniert das fast immer.
Und deshalb sitze ich ein bisschen später neben Chaz auf der Couch mit den Goldborten. (Auch die Kissen sind alt. Wenn ich nicht wüsste, dass sie aus einer Anwaltskanzlei stammen, würde ich schwören, sie hätten früher ein chinesisches Restaurant geschmückt. Ein sehr vornehmes. Trotzdem...) Rückhaltlos gestehe ich ihm die Wahrheit über meine beklagenswerte finanzielle Situation.
»Und jetzt«, fahre ich fort, ein hohes, eisgekühltes, fast leeres Glas in der Hand, »habe ich einen Job. Ich will nicht behaupten, dass es mein Traumjob ist. Klar, da kann ich einiges lernen – aber ich bekomme keinen Lohn, und ich habe keine Ahnung, woher ich im nächsten Monat das Geld für die Miete nehmen soll. Nicht einmal mit Teilzeitjobs kann ich was verdienen. Dafür habe ich keine Zeit, weil ich für Monsieur Henri arbeite. Und du weißt ja, wie miserabel Kellnerinnen und Barkeeperinnen bezahlt werden. Wenn ich meine Vintage-Kleider nicht verkaufe, werde ich’s nicht schaffen. Ich habe nicht mal genug Geld für die U-Bahn-Fahrt von deiner Wohnung zu Lukes Apartment. Und ich kann ihm das unmöglich sagen, das bringe ich nicht fertig. Natürlich wird er mich ebenso wie Madame
Henri für strohdumm halten. Meine Eltern
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