Naschmarkt
Kontaktlinsen«, keuche ich.
»Sie haben Ihre Kontaktlinsen verloren? Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Eine Männerhand streckt sich mir entgegen. Die dazugehörige Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor. Kräftig genug zieht mich die Männerhand vom Boden hoch.
»Warten Sie, Frau …«
»Wilcek«, ergänze ich automatisch.
»Frau Wilcek.« Auch die Art, wie er den Namen ausspricht, kommt mir bekannt vor. Ich hasse diese Momente, wenn ich nicht darauf komme, woher ich jemanden kenne. Die Hand, die auf meiner Schulter liegt, ist warm, und ein nicht unangenehmer Duft nach Rasierwasser umgibt mich. Interessant, wie man, von den Augen im Stich gelassen, automatisch die anderen Sinne zu Hilfe nimmt, um sich zurechtzufinden.
Ich blinzle, aber es wird nicht besser. Ich nehme die Konturen des Mannes vor mir nur verschwommen wahr. Warum habe ich auch die Brille daheim gelassen?
»Können Sie stehen?«
Ein besorgter Tonfall und noch etwas. Verunsicherung? Zögern?
Ich nicke, schließe meine Tasche und hänge sie mir über den Arm.
»Gut.« Er lässt mich los. »Ich suche jetzt Ihre Kontaktlinsen. Bleiben Sie, wo Sie sind!« Kaum dass er in die Knie gegangen ist und am Boden herumkrabbelt, höre ich die knarzende Stimme des alten Mannes aus der Loge.
»Da! Das ist sie. In dem grellgrünen Kostüm.«
»Dotti?«
Ich kann es nicht erkennen, doch ich wette, der Mottenschutztyp deutet auf mich, und Geraldo ist bereits auf dem Weg zu mir. Das Geräusch von näher kommenden Schritten auf den Stufen über mir sowie ein lautes »He!« des knienden Helfers überzeugen mich davon, dass es besser ist, schleunigst die Flucht zu ergreifen. Ich schlüpfe aus den Granny-Smith-Schuhen, nehme sie in die linke Hand und laufe, wie Aschenbrödel kurz vor Mitternacht, in Strümpfen die Treppe hinunter, halb blind, immer dem grünen Teppichläufer nach. Jemand versucht sich mir in den Weg zu stellen, ein Billeteur vermutlich. Ich schlage einen Haken, der fast für eine Kollision mit einer Marmorsäule sorgt. Zum Glück spüre ich den kalten Luftzug der Freiheit auf der Haut und folge ihm unverzüglich Richtung Ausgang.
Mein Helfer ruft mir etwas nach, das ich nicht mehr verstehe, weil ich genau in dem Moment die Tür erreiche und, ohne zu zögern, aus dem Opernhaus hinaus – und auf die dort wartende Taxischlange zustürme. Erst als ich im Taxi sitze, ziehe ich die Pumps wieder an, atme erleichtert aus und muss grinsen.
Liebst du schon oder lebst du noch?
Supermänner
Sonntag, 16. Oktober
Ich weiß nicht, welcher Typ Mann schlimmer ist: derjenige, der sich gar nicht erst die Mühe macht, sich vorteilhaft zu präsentieren, sondern bartstoppelig, aufgequollen und mit tiefen Augenringen hoffnungs- und orientierungslos in ein viel zu grelles Blitzlicht glotzt und mit verschreckten Kaninchenaugen darum bettelt, dass jemand ihm sein Leben aus den grobschlächtigen Händen nimmt? Oder derjenige, der auf professionell im Fotostudio angefertigten Hochglanzaufnahmen seinen Bierbauch in einem modisch engen violetten Hemd nach vorne reckt und trotz kahlem Haupt und Kassengestell mit Superman-Selbstbewusstsein in die Kamera smilt?
Diese beiden Prototypen machen etwa neunzig Prozent der männlichen Online-Dating-Gemeinde aus. Man erkennt sie unter anderem daran, dass sie seit Jahren einen Account haben und jedes weibliche Wesen innerhalb der ersten halben Stunde nach erfolgter Anmeldung kontaktieren, in der irrigen Annahme, Neuankömmlinge könnten nicht so schnell auf Bäume flüchten.
Irrtum, Männer: Wo ein Wille ist, ist auch ein Wald!
Die erste Nachricht seit meiner Literally-in-Love-Existenz erhielt ich von willistark 6 , der bei »Alter« sechsunddreißig eingetragen hat, auf dem sehr unscharfen Profilfoto aber eher wie sechsundfünfzig aussieht und stolz ein Herzchentattoo auf dem muskelfreien Oberarm präsentiert. Gleich danach schrieb mich TheRealKurti 1 an, der sich irrtümlich um fünfzig Kilogramm abwärts verschätzt hat, wenn es nach den ächzenden Knöpfen seines pastellrosa Hemdes geht. Kurz darauf folgte eine Nachricht von killerdonjuan, an dem das einzig Tödliche sein gelangweilter Gesichtsausdruck ist.
In freier Wildbahn stehen diese stolzen Recken am unappetitlichen Ende der Nahrungskette in Sachen Vernaschen, doch das weltweite Web mit seinen Möglichkeiten ist ihr Revier. Keiner von ihnen hätte ein weibliches Wesen in einem Lokal oder auf der Straße angesprochen, aber daheim im Schutze des Bildschirms
Weitere Kostenlose Bücher