Naschmarkt
Schuhgrößenmail erzählt. Will er mit seiner Bemerkung etwas andeuten? Steckt womöglich doch er dahinter, nicht die Loos? Ich navigiere das Hühnchenstück in meinen Mund. Es ist wider Erwarten nicht trocken und zäh, sondern wunderbar weich. Er beherrscht tatsächlich die Kochkunst.
»Ich meine ja nur«, fährt er hastig fort, als er meinen Blick bemerkt, »du solltest die Chose langsam mal ernst nehmen. Solche Datingplattformen haben eine hohe
success rate,
das kannst du nachlesen. Willst du das auch wegerklären? Es ist ein Fakt, dass heute viele gute Beziehungen im Internet starten. Wir sind nun mal die Generation Vernetzt.
Social Networking
bestimmt unser Leben. Das muss keine schlechte Sache sein. Es ist eher ein Zeichen von Wachstum.«
Ich erstarre mitten im Masalaschaufeln. Das Stichwort ist gefallen.
Alles wächst, auch wenn wir es nicht sehen können.
»Wachstum? Wie meinst du das?«
»Unser Horizont erweitert sich durch das Web, jeden Tag. Wir sind Teil vieler kleiner
Communities,
die zusammen die große
Community
der
Networkuser
bilden. Der Bereich
Home
besteht nicht mehr aus dem lokalen Umfeld unseres Zuhauses oder aus der Kleinstadt beziehungsweise dem Stadtteil, wo wir leben, sondern aus unserer
Community.
Dadurch erhöht sich der
News
-Konsum kontinuierlich, auch wenn er kaum noch über die klassischen Kanäle wie Nachrichten oder Zeitungen läuft. Ist dir klar, dass wir beim
Österreichboten
permanent hinterherhinken? Was wir heute drucken, konnte man gestern bereits bei Twitter und Facebook lesen.«
Lorenz’ Augen leuchten vor Begeisterung. Natürlich. Ein typisch männliches Computer-Nerd-Thema.
»Und was hat das mit
Literally in Love
zu tun?«
»Mensch, Dotti, das liegt doch auf der Hand: In unserem Realleben herrscht das Zufallsprinzip. Rein statistisch gesehen begegnest du nur einem verschwindend kleinen Teil der Menschheit
face to face,
und diese Begegnungen sind beliebig sowie total unkalkulierbar. Die Auswahl im Netz ist viel größer.
Permanent streaming.
Das ist eine komplett ökonomische Denkweise. In der Datingplattform kann ich Hunderte potentielle Partner gleichzeitig kennenlernen, unproblematisch, clean und zeitsparend, bequem von zu Hause aus, während ich einhändig Cheeseburger konsumiere. Um diese geniale Auswahl zu haben, müsste man als Single praktisch rund um die Uhr durch Lokale ziehen. Welcher normal arbeitende Mensch hat die Zeit und die finanziellen Ressourcen dazu? Du bräuchtest eine TARDIS .«
»Eine
was?
«
» TARDIS . Aus
Doctor Who. Trips aufgrund relativer Dimensionen im Sternenzelt.
Eine Raum-Zeit-Maschine. Dann könntest du vermutlich ähnlich vielen Menschen begegnen wie im Internet. Inklusive Kurt Cobain.«
Er hat recht. Das ist das wirklich Beängstigende daran. Vor meinem geistigen Auge sehe ich lauter einzelne Menschen mit Takeaway-Food an ihren Computern sitzen, User, die so lange Daten austauschen, bis sich zwei zusammenfinden. Im Dotti-Kopfkino tun sie das mit einem geräuschvollen Pling. Ihr Beziehungsstatus auf Facebook ändert sich automatisch von »Single« zu »in einer Beziehung«, und via Newsletter geben sie ihre virtuelle Vermählung bekannt. Womöglich trennen sie sich, ehe sie sich je getroffen haben. Scheidung 2.0 , komplett ökonomisch.
»Dotti?«
»Hm?«
»Ich habe gefragt, ob es dir geschmeckt hat.«
Offensichtlich habe ich den Teller mit Heißhunger leer gegessen, während ich in Gedanken war.
»Ja danke, sehr gut.«
»Magst du einen Nachschlag?«
»Nein danke, ich bin satt.«
Im wahrsten Sinn des Wortes, vollgestopft mit Huhn und Realität. Ich stelle mein Geschirr auf einen Stapel CDs, der mit »Singer-Songwriter, female« gekennzeichnet ist. Scheinbar interessiert sich Lorenz auch für Musik. Noch so ein Detail, das ich nicht über ihn wusste.
Wie Daniel Düsentrieb, wenn er eine Idee hat, springt er nun auf und räumt beide Teller in die Küche. Bloß keine Kontaminierung mit Chaos in Pedantenhausen.
»Können wir jetzt ein männliches Profil bei
Literally in Love
einrichten?«, rufe ich ihm nach.
»Gleich. Lass mich das nur schnell spülen.«
Ich lehne mich in der Couch zurück und schließe die Augen. Es war ein verdammt langer Tag. Nachdem in der Früh der Phyllium-Blog-Beitrag erschienen war, musste ich viertelstündlich Anrufe von Fernseh- und Radiostationen, anderen Zeitungsredaktionen, katholischen, feministischen, ultrakonservativen Organisationen und vom Familien- sowie Frauenministerium entgegennehmen,
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