Naschmarkt
Theaterwissenschaftlerinnen und Rollenspieler mit Rollenspielerinnen.
In der ersten Kontaktaufnahme wird die Frage nach Größe, Gewicht und Haarfarbe vernachlässigt, dafür geht es darum, den perfekt designten Freizeitpartner aus dem Pool potentieller Gefährten zu extrahieren.
»Spielst du Tennis?«, will racketman99 von mir wissen. Als ich verneine, löscht er mich von seiner Favoritenliste. Was dem Break Point eine ganz neue Bedeutung gibt. Ich tanze auch nicht Polka, interessiere mich null für seltene Krabbeltiere und spiele nicht World of Warcraft.
»Ich lese gern«, antworte ich stets.
»Klar, wir sind ja bei einer Literaturplattform«, werde ich belehrt. »Aber was machs
t du sonst so?«
Mir geht ein nerdiges Hobby ab. Vielleicht sammle ich fortan tote Fliegen oder Fotos von mir mit Dingen auf dem Kopf.
Dating im dritten Jahrtausend bedeutet: Es genügt nicht mehr, ein passabel aussehendes Lebewesen ohne gröbere Mängel zu sein. Man sollte einer angesagten Freizeitbeschäftigung nachgehen, einer bestimmten Vereinigung angehören. Egal, ob Terry-Pratchett-Fanclub, Freunde der Wiener Oper, Meerschweinchenforum oder Golferstammtisch. Und man sollte sich hobbymäßig schubladisiert haben, ehe man zu daten beginnt. Wer nicht mit-nerdet, bleibt auf der Strecke. Denn wir suchen in Wahrheit gar nicht nach einem Lebensgefährten, sondern nach dem perfekten Klon von uns selbst.
Woher kommt der Irrglaube, dass man zu einem glücklichen Erdenbürger wird, wenn man sich mit jemandem paart, der identische Vorlieben, Abneigungen, Essgewohnheiten, den gleichen Musikgeschmack und womöglich auch noch denselben Haarschnitt hat?
Diese verzweifelte Suche nach dem mustergültigen Ebenbild führt doch am Ende nur zu einer einzigen logischen Schlussfolgerung: Wir wollen unsere Freizeit am liebsten mit
einer einzigen Person
verbringen, unser Bett mit
ihr
teilen, unsere Urlaube mit
ihr
planen und lieben
sie
über alles:
Uns selbst!
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Samstag, 22 . Oktober
»Das Auftreten eines bösen Gedankens ist eine Krankheit. Ihn nicht fortzuspinnen ist die Medizin.«
»Freud?«
»Zen.« Miki ist bei Buchstabe H angekommen, nimmt Hemingways
Haben und Nichthaben
aus dem Regal und wischt mit dem Staubtuch übers Cover. Lady Lydia besteht darauf, dass alle Bücher im
Pies & Pages
mindestens einmal in der Woche abgestaubt werden.
»Bücher haben ein Bücherfell«, hat sie mir als Kind klargemacht. »Nur wenn man sie streichelt, bleibt ihre Seele schön.« Hemingways Seele glänzt in feinstem Weinrot, und Miki stellt ihn vorsichtig an seinen Platz zurück. Dabei schenkt sie mir ein herzliches Lächeln.
»Und hat dein Zen auch eine Lösung dafür, wie man den bösen Gedanken vollständig loswird?«
Sie denkt darüber nach, während sie Hesses
Siddhartha
schön streichelt.
»Hm. Ein asiatisches Sprichwort sagt: Achte auf deine Gedanken. Sie sind der Anfang deiner Taten.«
»Und was willst du mir damit sagen?«
»Du denkst zu viel.«
Ich werfe einen vorsichtigen Blick zwischen zwei Bücherregalen hindurch. Der böse Gedanke hockt unverändert auf dem Lesesofa. Sein dünnes, rotblondes Haar reflektiert die Farben der Tiffany-Lampe. Anton Fischler trägt einen tadellosen Anzug, selbst sein Hemdkragen ist sorgfältig gebügelt. Mutti wäre stolz auf ihn. Kerzengerade sitzt er da und zupft seine Ärmel zurecht, als gäbe es etwas zu korrigieren.
»Du solltest ihn küssen, Dotti.«
»Damit er mal den Mund aufmacht?« Ich sehe Miki von der Seite an. Sie betrachtet nachdenklich die Pastellrücken von Anne Hertz’ gesammelten Werken. Ich senke die Stimme, denn ein Kunde ist gerade neben uns getreten und studiert die Bücher unter »G«.
»Weißt du, was ich glaube? Die großen Liebesgeschichten der Weltliteratur funktionieren nur deshalb so gut, weil talentierte Dichter den Protagonisten die Worte in den Mund gelegt haben. Sonst wären sie allesamt
stumm wie die Fischlers.
«
»Unsinn«, meint Miki, »sie funktionieren, weil sich die Protagonisten immer küssen, bevor ihnen die Worte ausgehen.«
»Meinst du?«
Ein verträumtes Lächeln zeigt sich auf ihren Lippen.
»Ein guter Kuss erzählt mehr über den anderen Menschen als jedes Gespräch.«
»Wohl kaum.«
»Dann hattest du noch keinen guten Kuss.«
Ich will etwas antworten, verkneife es mir aber im letzten Moment. Der Boden scheint unter meinen Füßen zu schwanken, als wären es nicht länger die alten Dielenbretter vom
Pies &
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