Nashira
geformter Stein hing, der zu einer Seite glatt abgeschnitten war. Vor Jahren hatten die beiden Schwestern im Palastgarten einen seltsamen Stein gefunden, der aus zwei völlig identischen Hälften zu bestehen schien, die an einer Stelle miteinander verbunden waren.
»Der Stein ist wie wir beide«, hatte die Ältere gesagt, während sie ihn, in der flachen Hand, der Jüngeren zeigte. »Zwei gleiche Hälften eines Ganzen.«
Lebitha hatte ihn dann mit einer kleinen Säge geteilt und in jede Hälfte ein Loch gebohrt.
»Den einen behalte ich, den anderen bekommst du. Und immer wenn wir uns allein fühlen, können wir unseren Stein betrachten und uns daran erinnern, dass wir für immer zusammengehören.«
Talitha entdeckte das Lederband um den Hals der Schwester. Sie lächelte, umfasste dann ihren Stein fest, führte ihn sich an die Stirn und schloss die Augen.
Am nächsten Tag blieb ihr nichts anderes übrig, als an der Hochzeit teilzunehmen. Sie hatte versucht, sich davor zu drücken, doch ihr Vater hatte sich nicht erweichen lassen.
Es wurde eine regelrechte Tortur. Mitzuerleben, wie die Leute um sie herum gut gelaunt feierten, zu beobachten, wie Unmengen an Speisen aufgetragen und abgeräumt wurden, und dann keine Möglichkeit zu haben, dem allen zu entfliehen, war unerträglich für sie. Saiph nutzte das Durcheinander, um zwischen dem Festsaal und Lebithas Krankenzimmer hin und her zu pendeln und so seine Herrin über den
Zustand ihrer Schwester auf dem Laufenden zu halten. Aber das reichte ihr nicht. Sie musste bei Lebitha sein, alles andere war einfach falsch.
Endlich wurde es Abend, und ihre Eltern machten sich zum Aufbruch fertig. In Anbetracht von Lebithas Zustand hatte ihnen der Brautvater einen geflügelten Drachen zur Verfügung gestellt, der sie rasch nach Hause bringen würde.
Unter anderen Umständen hätte Talitha jeden Augenblick einer solchen Flugreise genossen. Doch jetzt waren alle Gedanken auf ihre Schwester gerichtet, die immer noch nicht zu Bewusstsein gekommen war. Im Moment war nur sie wichtig.
Talithas Gesicht war das Erste, das Lebitha sah, als sie erwachte. Nur langsam öffnete sie die Augen, denn bereits das schwache Licht, das durch die Vorhänge in ihr Zimmer sickerte, blendete sie.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Talitha.
»Wo sind wir?«
»Zu Hause.«
Lebitha versuchte nachzudenken, doch das allein strengte sie schon so an, dass ihr der Schweiß auf die Stirn trat. »Ich erinnere mich an das Abendessen, aber dann ...«
»Du bist während des Empfangs ohnmächtig geworden und warst drei Tage bewusstlos. Wir haben dich auf einem Drachen nach Hause gebracht.«
Lebitha hob ein wenig den Kopf. »Auf einem Drachen? Das hat dir sicher Spaß gemacht«, sagte sie mit matter Stimme.
Talitha drückte ihre Hand. »Ach, Bitha, schön, dass du wieder wach bist ...«
Lebitha wollte sich aufrichten, doch ihre Arme waren zu schwach und gaben nach.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Talitha fürsorglich. Sie rückte ihr das Kissen zurecht und half ihr, sich aufzusetzen. Erschöpft lag Lebitha in ihren Armen.
»Habt ihr euch große Sorgen um mich gemacht?«
»Ein wenig schon«, spielte das Mädchen die Sache runter.
»Weißt du, seit einer ganzen Weile schon fühle ich mich ständig erschöpft ... und so schwindlig im Kopf. Vielleicht liegt es daran, dass ich so viel lesen muss.«
»Deine Chefin hat versprochen, dass sie heute noch Schwester Liana zu dir schickt.«
»Meine Chefin?«
»Ja, die Kleine Mutter. Sie wurde benachrichtigt, dass es dir nicht gut geht.«
Lebitha lachte leise. »Meine Chefin ... Ganz schön frech, wie du sie nennst.«
Talitha schmunzelte. Wenigstens war ihrer Schwester noch zum Lachen zumute. Das musste ein gutes Zeichen sein.
»Du und die Religion, ihr seid euch immer noch nicht besonders grün«, bemerkte Lebitha.
Talitha zuckte mit den Achseln. »Ich bin eben eine Kadettin der Garde. Für diese spirituellen Dinge habe ich keinen Sinn.«
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Graf Megassa erschien auf der Schwelle. Talitha sprang auf, während ihr Vater den Raum betrat. Begleitet wurde er von einer Frau in einem roten Gewand, der das Haar lang auf die Schultern fiel. Ihre Züge strahlten Autorität aus, und ihre Miene wirkte ernst, aber nicht streng. Es war Schwester Liana, die Heilerin. Lebitha begrüßte sie mit einem Lächeln, das die Frau erwiderte.
Forschen Schritts trat der Graf zum Bett der Kranken. »Lebitha, du bist
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