Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
Der Arzt rieb sich die Hände und steckte sie der Glut entgegen, um die Finger zu erwärmen. Man sagte von ihm in Batkit, er könne mit den Fingerspitzen sehen. »Das Sumpffieber wird Sie sechs Wochen auf den Rücken legen, aber ich dosiere es so, daß es immer unter Kontrolle bleibt.«
»Wie beruhigend, Doktor!«
»Werden Sie nicht sarkastisch! Die Sache hat übrigens auch ihren Nutzen. Ich immunisiere Sie gleichzeitig damit! Sie werden nie mehr Sumpffieber bekommen! Ist das nichts?«
»Ich habe nie Sumpffieber gehabt.«
»Dann werden Sie keines bekommen!« schrie Plachunin. »Nur einmal – mein spezielles! Kommen Sie her – ich untersuche Sie!«
Es war wenig zu untersuchen. Tassburg war gesund, so gesund, wie man als normaler Mensch nur sein kann. Nach einer Viertelstunde gab es Dr. Plachunin auf.
»Sie sind für Ärzte eine Beleidigung!« sagte er. »Grinsen Sie nicht! Gerade die Typen, die zeit ihres Lebens Bäume umspucken konnten, fallen auf einmal zusammen wie zu früh aus dem Backofen gezogener Käsekuchen. Warum – das ist medizinisch noch nicht ganz klar. Anscheinend nehmen die Zellen Rache für die bisherige Dauergesundheit! Ziehen Sie sich wieder an, Michail, mit Ihnen kann ich das Experiment machen. Sobald das Wetter offener wird, verlangen Sie über Funk einen Hubschrauber und kehren als Fieberkranker nach Omsk zurück! Aber was machen wir nur mit Natalia? Sie müßte schon vorher offiziell auftauchen!«
»Und bei dieser Schwierigkeit versagt Ihr Sumpffieber! Sie wissen, daß auf Natalias Ergreifung ein Preis ausgesetzt ist! Wir müssen uns erst überzeugen, wie in Mutorej die Lage ist, was ihre Eltern unternommen haben, ob man Natalia noch sucht oder als in der Taiga verschollen abgeschrieben hat. Und vor allem – ob bei den Behörden in Omsk der Vorgang bekannt geworden ist!«
»Sie glauben doch wohl nicht, daß man nach Omsk gemeldet hat, dieser Kassugai habe ein Mädchen gekauft?«
»Man kann hundert Gründe konstruieren, einen Menschen zu jagen. Doktor, wem sage ich das? Wir Russen …«
»Hören Sie damit auf, Michail! Also gut! Fragen wir zuerst in Mutorej nach, was da los ist. Aber wissen Sie, wieviel Zeit Sie damit verlieren?«
»Das ist ja meine große Sorge.«
»Verdammt, dann soll Natalia mit mir nach Batkit kommen!«
»Sagen Sie ihr das selbst, wiederhole ich!« Tassburg zeigte auf die Tür zum Schlafraum. »Sie schläft nicht. Sie sitzt im Bett und hört alles mit.«
»Sie raffiniertes Bürschchen!« Plachunin spuckte gegen die heißen Ofensteine, daß es zischte, und blickte dann zur Tür. »Komm raus, mein Töchterchen!« rief er mit gewaltiger Stimme. »Ich weiß, du willst mich nicht sehen, aber wenn du alles mitgehört hast, wirst du wohl begreifen, daß es uns nur um dich geht! Und um dein Kind! Wir zermartern uns die Hirne, und du sagst einfach: Nein! Komm raus, du schönes Hexlein!«
Die Tür öffnete sich, und Natalia kam ins Wohnzimmer, die Haare hinten mit einer Kordel zusammengebunden. Sie blickte den kleinen Doktor wie ein gefangenes Reh an und wich bis in die Ecke zurück, wo die Holzkloben aufgestapelt waren. Es war wie ein Versinken in der Dämmerung, nur ihr Haar leuchtete im Widerschein des Feuers wie dunkle Kupferfäden.
Dr. Plachunin sah sie schweigend an und nickte dann. »So sehen also Frauen aus, die Männer zu Narren machen! Ich kann's verstehen! Natalia Nikolajewna, du hast alles gehört. Ich werde deinen Mischa künstlich krank machen, aber ich verspreche dir: Er überlebt es! Doch was wird mit dir?«
»Ich bleibe bei ihm. Immer!«
»Das sollst du ja auch! Ich will euch nach Omsk bringen! Nur mußt du zuvor hier irgendwie auftauchen!« Plachunin hatte mittlerweile die Flasche mit dem roten Samarkand geleert und winkte Tassburg mit einem aufmunternden Lächeln zu, sich um eine zweite Flasche zu bemühen. »Wer wußte von dem Handel zwischen Kassugai und deinen Eltern?«
»Niemand sonst«, sagte Natalia stockend.
Tassburg hatte sich wieder angezogen und holte die neue Flasche.
Dr. Plachunin schüttelte den Kopf. »Aber wieso wurden dann tausend Rubel für deine Ergreifung ausgesetzt?«
»Das hat nur Kassugai verbreitet. Er hat überall erzählt, ich sei eine Mörderin. Nur dadurch konnte er auch hier alle Häuser durchsuchen, und niemand hat ihn daran gehindert.«
»Aber amtlich liegt nichts gegen dich vor?«
»Nein.«
»Keine offizielle Anzeige?«
»Nein.«
»Du bist den Behörden völlig unbekannt?«
»Ja – das heißt, nein …
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