Natascha
… und dort wirst du singen, singen, singen, ganz allein in einem riesigen Zimmer, bis du die schönste Stimme der Welt hast und man dich hinausschickt in die großen Opernhäuser aller Länder! Ist das nicht ein Glück, Nataschka?«
Waleri Tumanow sah es so an, und er wunderte sich, daß Natascha nicht mit ihm lachte. Still ging sie an das große Fenster und sah hinunter auf den viereckigen Hof der Akademie. Dann legte sie die Stirn an die Scheibe, und an der Schnelligkeit, mit der die Scheibe beschlug, erkannte Tumanow, wie heftig Natascha atmete.
»Ist's keine Freude?« fragte er.
»Man will mich drei Jahre lang einsperren?« fragte Natascha.
»Einsperren! Alle Freiheiten wirst du haben. Sonderverpflegung, Wein, fröhliche Künstlergesellschaft, Geld! Nur lernen mußt du … an nichts anderes darfst du denken als an das: Ich muß singen! Mein Vaterland braucht meine Stimme. Ich muß die größte Sängerin Rußlands werden! Auf mich wartet die ganze Welt!«
Natascha fuhr herum. In ihren schwarzen Augen lag wieder die Wildheit, die ungebändigte Kraft der Natur, die selbst Luka fürchtete.
»Ich will nicht die Gefangene meiner Stimme sein!« schrie sie. »Zurück nach Tatarssk will ich, mit Luka! Auf einer Kolchose habe ich gelernt zu arbeiten. Was soll ich hier oder in Saratow oder am Baikalsee? Nur weil ich singen kann, wollt ihr mich fesseln?!«
Tumanow senkte den Kopf. Weiß waren seine Haare, und sie schienen noch zu bleichen unter den Worten Nataschas.
»Wir alle haben Fesseln, Täubchen«, sagte er leise. »Wir wären sonst nicht in Rußland geboren –«
»Und wenn ich mich weigere, zu singen?«
»Was nützt's! Man weiß jetzt, daß du singen kannst.«
»Aber man kann mich nicht zwingen –«
»Wünsche dir nicht, die Macht eines Staates zu fühlen«, sagte Tumanow leise. »Haben in den Sümpfen nicht alle auch das getan, was du wolltest, Natascha? Gezwungen hast du sie, mit der Pistole … und sie taten alles aus Angst … Man darf es nie vergessen, Töchterchen. Und so mächtig man selbst ist … immer gibt es noch Mächtigere über einem, denen man sich beugen muß … können wir es ändern?«
An diesem Vormittag übten sie nur Noten lesen und Klavierspiel. Die Stimme versagte Natascha, als sie die ersten Takte singen sollte. Ein jeder Ton ist eine Kette, die ich mir selber schmiede, dachte sie. Das zerbrach ihren Atem, und Waleri Tumanow winkte verständnisvoll ab und zeigte auf das Klavier.
»Spielen wir … morgen wird das Stimmchen wieder da sein –«
Nach dem Unterricht lief Natascha ziellos durch die Straßen Moskaus. Auf dem Roten Platz stand sie über eine Stunde und sah der Schlange Menschen zu, die sich träge an der Kremlmauer entlangschob und an der einen Seite des Leninmausoleums verschwand, um an der anderen Seite wieder herauszutreten. Bauern aus der Mongolei, Reiter aus Kasakstan, Kamelzüchter aus Ulan Bator mit runden, nach oben zu spitzen Mützen und hängenden, dünnen Schnurrbärten, blonde Bauern aus der Ukraine und schwarzlockige Mädchen aus dem Kaukasus, farblose Kopftücher aus Sibirien und schwarze Steppjacken aus Kamtschatka, krummbeinige Kalmücken und schlanke, hochgewachsene Leningrader … eine ganze Welt zog langsam durch das Totenhaus und am gläsernen Sarg Lenins vorbei.
Für sie alle soll ich singen, dachte Natascha. Vor dem riesigen Kremltor stand sie und sah hinüber auf den mit Kränen und Baugerüsten, Steinen und Sandbergen vollgestopften Platz, auf dem die neue, weiße Lomonossow-Universität entstehen sollte. Ein wie Kaskaden aufsteigender Turm, der in den Himmel stechen sollte und den man sehen würde von jeder Stelle Moskaus aus.
Es war ihr plötzlich, als verstehe sie die Freude des alten Tumanow. Was sind drei Jahre in Saratow und am Baikalsee, wenn danach die Welt offensteht? Früher war's ein hartes Leben, und die Ernte der Kolchose ernährte einige hundert Menschen. Jetzt war es möglich, Millionen Menschen etwas Freude zu geben, und nur zu singen brauchte man.
Im Lazarett saß Luka in seinem Spezialbett und spielte Karten, als Natascha ihn besuchte. Der Chefarzt selbst begleitete sie in den Krankensaal und scheuchte die anderen Patienten ins Bett.
»Täubchen!« schrie Luka. Er streckte beide Arme aus, es war, als wolle er aus dem Bett springen, in dem Gipsverband knackte es, so wie im Frühjahr auf der Wolga die Eisschollen zerplatzen. »Natascha!« schrie er noch einmal und umklammerte ihre Hände. Über sein breites Gesicht zuckte
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