Natascha
rannte weiter. »Er stampft mich in die Erde! Ihr könnt's beschwören, daß das Pferdchen ganz von selbst starb, daß ich es gepflegt habe wie meinen Augapfel! Genossen! Genossen! Haltet das Untier auf!«
Ein Fehler ist's, zu schreien, zu fliehen und gleichzeitig zu laufen. Washa Igorowitsch erkannte es zu spät. Er stolperte über eine Wagendeichsel, die im Wege lag, schoß waagerecht über die Erde, wälzte sich über den Kopf und saß im wirbelnden Staub, als Luka ihn erreichte und die Sonne vor Washas Augen sich verdunkelte.
»Brüderchen!« wimmerte Washa Igorowitsch. Dann schluckte er wie in einem Krampf, sein Darm entleerte sich, und das ist peinlich, bei jedem Menschen, Freunde, besonders aber bei einem, der auch noch ein Natschalnik ist.
»Oh!« heulte Washa Igorowitsch. »Greif mich nicht an, Brüderchen! Beschmutz dir nicht die Hände, Genosse! Ich schwöre es dir bei der Heiligen Mutter von Kasan: Dein Pferdchen machte sich aus dem Staub, ohne etwas zu sagen. Müde war's die ganze Zeit, den Kopf ließ es hängen … Heimweh hatte es nur, Heimweh nach dem großen Luka, der es allein gelassen hat –«
Nach dieser langen Rede fiel Washa Igorowitsch rücklings auf die Erde, streckte sich wie ein geplatzter Frosch und fiel in Ohnmacht.
Luka stand mit gesenktem Kopf über dem Natschalnik. Die letzten Worte hatten sein Herz getroffen und es aufgerissen. Natürlich, dachte er, und es tat weh, so zu denken. Heimweh hatte es, das gute Pferdchen, Luka fehlte ihm, fremd war's auf dieser Welt unter unbekannten Menschen. Da hat es sich hingelegt und war gestorben. Das Herz war ihm gebrochen aus Leid.
Über Luka kam eine große Traurigkeit. Sein Gesicht verzerrte sich, und seine Augen schwammen in einem trüben See.
»Das Leben ist schwer, Genosse!« sagte er schluchzend zu dem ohnmächtigen Washa Igorowitsch. »Zwei Freunde hatte ich … Natascha und mein Pferdchen. Nun ist's Natascha noch …«
Traurig verließ Luka die Sowchose ›Maxim Gorkij‹. Er saß den ganzen Tag über auf seinem Zimmer und starrte gegen die Wand. Wie zerbrochen war er, der Riese, wie ausgehöhlt und nur noch eine dicke Hülle ohne Inhalt. Mein Pferdchen habe ich getötet, dachte er. Heimweh hat es gehabt, Heimweh nach Luka. Wer hätte das gedacht von einem struppigen, häßlichen Gäulchen?!
Erst am Abend ging er zu Natascha in das Krankenhaus und setzte sich still und versonnen auf den Stuhl neben ihr Bett. Natascha sah ihn verwundert an.
»Wie war's, du Bär?« fragte sie.
»Das Pferdchen ist tot!« sagte Luka dumpf.
»Ich habe es geahnt.« Natascha setzte sich im Bett auf und zog Lukas Kopf an den Barthaaren zu sich heran. Sie sah, daß er geweint hatte. Ganz rot waren die Augen des Riesen. »Es war ein altes, klappriges Tierchen«, sagte sie tröstend. »Einmal sind auch wir alt und müde und legen uns hin und wünschen: Schön wär's, nicht wieder aufzuwachen. Man kann sie nicht ertragen … die Menschen, die Tiere, die ganze Welt …« Sie ließ Lukas Kopf los und warf sich zurück in das Kissen. »Mir ist's sogar schon so ergangen …«
»Aber du hast doch mich, Nataschka«, sagte Luka und putzte sich mit dem Handrücken die Augen. »Ich bin doch da. Wen aber hatte das Pferdchen …«
»Das stimmt«, sagte Natascha. »Das ist eine andere Lage.«
Und wieder verstanden sie sich völlig, ohne weiterzusprechen. Warum eigentlich – so frage ich – nannte man Luka einen Idioten …?
Drei Wochen waren sie in Sotschi am Schwarzen Meer, sonnten sich im weißen Sand des Strandes, schwammen hinaus in das Meer wie ein Walfisch, begleitet von einem Silberfischchen, und stellten sich vor der Kinokasse an, um die neuen amerikanischen Filme anzusehen, denn noch gab es Freundschaft mit dem Westen, auch wenn es hieß, er sei dekadent und verfaule von innen wie eine krebsige Kartoffel. Jeden zweiten Tag schrieb Natascha einen Brief an Luka Nikolajewitsch Sedow, aber eine Antwort erhielt sie nie. Sie machten auch einen weiten Umweg, die Briefchen. Nicht direkt nach Sibirien wurden sie befördert, sondern zurück nach Moskau. Dort saß ein dicker Mensch hinter einem Schreibtisch, schlitzte das Kuvert säuberlich auf und las das, was Natascha ihrem Ehemann zu berichten hatte. Hier und da rülpste er maßregelnd, nahm einen dicken Tuschestift und beschmierte die Worte, die ihm mißfielen, so dick mit Tinte, daß sie unlesbar wurden. Vorher aber ließ er den Brief fotokopieren und legte ihn in einen Aktendeckel. Erst dann nahm der Brief
Weitere Kostenlose Bücher