Natascha
Auch über sein Versteck glitt der Schein … da preßte er den Kopf tief in den Schnee, wie ein Tier, das im hintersten Winkel einer Höhle sich verkriecht, um dort zu verenden.
Als der Morgen fahlgelb aufstieg, schneite es wieder. Der Himmel war wieder grau und schwer von Schnee. Die Russen verließen den Wald und gingen zurück zu ihren eroberten Stellungen. Er hörte ihr Lachen und ihre Zurufe.
Wie sicher sie sind, dachte Gebhardt. Ist die Front bereits so weit zurückgedrängt? Bin ich so weit hinter den Linien? Er wußte, daß es kein Zurück mehr gab. An dem Lachen der zurückgehenden Russen erkannte er es. An ihrem sorglosen Rufen, ihrem lärmreichen Suchen nach ihm, dem letzten …
Gebhardt hockte unter seinen Bäumen und sehnte den Tod herbei. Und er dachte an Natascha und an den heißen Wind, in den sie sein Herz gehalten hatte …
Wie eine verirrte Füchsin zog Natascha Astachowa durch den Schnee.
Luka war nicht mehr da, Ilja, ihr Geliebter, war untergegangen in dem infernalischen Aufbrüllen der Schlacht, und sie war gelaufen, schreiend und winkend und wegrennend vor dem Tod, den die eigenen Genossen ihr entgegenschossen. Dann war sie im Wald, kroch durch das Dickicht und verbarg sich wie Gebhardt unter umgestürzten Bäumen. Sie begriff es nicht, und es war wirklich schwer, noch zu verstehen, daß Soldaten der Roten Armee auf die eigenen Leute schossen und sie behandelten wie räudige Hunde.
Bis zum nächsten Abend lag Natascha in ihrem Versteck. Sie hörte, wie die Front weiter wegrückte, wie die deutschen Kompanien überrollt wurden oder sich zurückzogen … dann knatterten und knirschten die Panzer am Waldrand vorbei, Kolonnen von Lastwagen mit Munition und frischen Soldaten. Wie eine Katze kletterte Natascha auf einen Baum und sah hinaus auf den dunklen Wurm von Maschinen und Menschenleibern, der sich träge nach Westen wälzte … durch die Sümpfe, an den Sümpfen vorbei … Der Sieg war's, der langersehnte Sieg … und jetzt war er bitter und voll Haß und voll Trauer. Ein Sieg ohne Fedja und ohne Ilja … für Natascha war's, als habe sie diese Stunde nie herbeigewünscht, sondern immer gefürchtet.
Als der Abend fahl über den Wald fiel, zog sie weiter. Wohin, das wußte sie nicht. Nach Krassnoje Mowona, das war ihr erster Wunsch. Dort mußte es Freunde geben, Leute, die sie erkannten, Genossen und Freunde, die nicht auf sie schossen, vor allem nicht, wenn sie die weiße Fahne schwenkte. In Krassnoje Mowona war schon der Frieden. Weit hinter der Front lag es, und sicherlich saß in der stolowaja der Sowchose schon der Genosse Natschalnik und überlegte angestrengt, was man im Frühjahr zuerst aussäen sollte … Mais oder Sonnenblumen oder Getreide oder auch nur Wiese, um neues Vieh großzuziehen.
Aber bis Krassnoje Mowona war's weit, und zwischen dem Wald am Pripjet und der niedergebrannten Datscha der Tschugunows lagen Tausende von Roten Soldaten, wilde Gesellen, denen der Sieg in den Kopf gestiegen war und die sich vorkamen wie die Herren der Welt.
Natascha Astachowa wartete die Nacht ab, ehe sie tiefer in den Wald stapfte. Sie kannte keine Richtung mehr, aber sie wußte, daß es der richtige Weg war. Ein Wolf weiß, daß unter den Bäumen seine Heimat ist. Er riecht das Leben …
Vor dem Morgengrauen suchte sie sich eine Stelle, an der sie schlafen konnte. Eine Mulde war's, ein alter Granattrichter, über den ein Strauch gewachsen war. In sie hinein kroch sie, rollte sich zusammen und schloß erschöpft die Augen.
Keine dreihundert Meter seitlich von ihr lag Klaus Gebhardt unter seinem Baumstamm, eingeklemmt in das Wurzelwerk, vergehend wie ein abbrennendes Licht, bis zum Unterleib schon abgestorben. Nur eine kleine, glimmende Pfeife hauchte Wärme über seine Hände und das Gesicht. Eine Pfeife, die ihm Luka in den Sümpfen geschnitzt und in der er alles geraucht hatte, was Qualm gab … Machorka – es waren Festtage gewesen –, getrocknete Minze oder kleingestoßene Schilfblätter. Nun waren es noch ein paar Krümelchen Tabak, vermischt mit Gras und getrockneten Weidenblättern. Ein beißender Rauch war's, der die Kehle und den Gaumen zerfraß … aber auch Wärme war es, herrliche, winzige Wärme inmitten Eis und Schnee. Ein letzter kleiner Ofen, dessen Glut sich in den Augen spiegelte … Leben war's, sichtbar und fühlbar, während der Tod von unten her durch den Körper kroch.
Klaus Gebhardt umklammerte den heißen Kopf der Pfeife und sog den Rauch ein. Er war soweit
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