Natascha
gekommen, den Tod nicht mehr zu fürchten. Er erwartete ihn. Fast sehnte er ihn herbei. Ab und zu glitt sein Geist weg … seine erfrorenen Beine spürte er nicht mehr. Erst war's ein Kitzeln und Kribbeln, dann kamen kurze Schmerzen, und dann blieb etwas Taubes zurück, das immer näher zum Herzen rückte und sein Gehirn träge und schläfrig werden ließ.
Mach Schluß, Gott … dachte er. Halb bin ich ja schon tot … nun nimm den oberen Teil auch weg aus dieser Welt. Vor allem laß mich nicht mehr denken … es ist schrecklich, denkend zu sterben. Das Bewußtlose ist die einzige Güte des Todes … soll ich sie nicht haben?!
Mit dem Daumen drückte er die Asche des Tabaks in die Pfeife. Noch vier oder fünf Züge, dachte er, dann ist sie wieder aus. Aus der Tasche holte er den von Luka genähten kleinen Fellbeutel. Dünn war er geworden … noch sechs Pfeifen voll … höchstens sechs Pfeifen. Ich werde sie nicht zu Ende rauchen, diese sechs, dachte Gebhardt. Ich werde vorher vergehen wie der Rauch, den ich ausstoße und der in der kalten Luft zerflattert.
Merkwürdig, woran man denkt, wenn man denkend stirbt.
Da waren die alten Griechen … immer hatte er sie geliebt und sich gesagt: Das Leben ist ein Kreis! Nun sah er, daß es ein Irrtum war. Das Leben ist wie ein großer Faden, und wenn es das Schicksal will, dann schneidet man ihn ab. Wie hatte er als Schüler die Sage von den Nornen belächelt … jetzt, im Wald bei Posstoly, wußte er, daß es sie gab: Urd, die den Faden spinnt, Verdandi, die ihn webt, und Skuld, die ihn abschneidet.
Gebhardt lächelte schwach. Gedanken … Bilder … Erinnerungen … es ist ein merkwürdiges Sterben. Der eine weint, der andere schreit, der dritte wird ein sich erinnernder Gymnasiast. Wirklich, das Sterben ist ein Mysterium –
Dreihundert Meter nur seitlich lag Natascha Astachowa in ihrem Granattrichter unter dem Gebüsch. Sie schlief. Sie träumte. In ihrem schmalen Gesicht war ein Lächeln erstarrt, festgefroren auf ihrer Haut wie die Haare und die kleinen Rinnsale des Schweißes.
Über die Steppe zieht ein kleines Fuhrwerk, träumte Natascha Astachowa. Struppige Pferdchen ziehen es. Über die Straße, die nur ein ausgefahrener Weg mitten durch die Steppe ist, holpert es hin und her. »Heij, Kolka!« ruft eine Stimme zu den Pferdchen. »Willst du wohl richtig gehen, Semja?! Mit dem Peitschchen werde ich dich schlagen müssen, Kolka, wenn du Semja immer beißt!« Es ist eine helle Stimme, eine Kinderstimme, ein Knabe ist's in einer hellblauen Leinenjacke und braunen, weichen Stiefelchen an den schlanken Beinen.
Zwei Menschen sitzen hinten in dem Wägelchen. Ein Mann und eine Frau. Mit Stolz sehen sie auf den Jungen, der die Pferde lenkt. Die Sonne glänzt auf sein schwarzes Haar wie auf Metall. »Er wird so stark sein, wie du, Ilja«, sagt die Frau. Wie ihre ein wenig schräggestellten, schwarzen Augen lachen, und gerötet ist ihr schmales Gesicht! Der Mann schweigt. Auf den Jungen schaut er, über die Steppe, über die Felder zu beiden Seiten, hinüber zum Horizont, wo er dunkel ist, grün, wogend … die Wälder von Ochlowka. Sie fahren am Ufer der Molochowka entlang, zu den Hirten, die bei Trojany die Herden über die Steppen treiben und auf kleinen, windschnellen Pferden über das Gras zu fliegen scheinen. »Ist's nicht schön, unser Mütterchen Rußland?« fragt die Frau. Und Ilja, der große, schlanke, blondhaarige Ilja, nickt und umfaßt sie. »Die Welt ist so klein geworden, Nataschka. Nur du und Sergeij und das Land, so weit man blicken kann – was will man mehr auf dieser Erde?! Ich bin so glücklich –«
Natascha schreckte hoch. Wind war aufgekommen, er trieb den Schnee durch Geäst und Stämme und durch das Gebüsch in ihren flachen Granattrichter. Sie kroch noch mehr in sich zusammen und starrte in die weiße, eisklirrende Nacht. Weit weg, durch Lücken der Baumkronen sichtbar, pendelten ein paar Leuchtkugeln an Fallschirmen über die Front. Ab und zu kam mit dem Wind ein leises Knattern und Grollen in den stillen Wald. Maschinengewehrfeuer, Kanonen … ewige Unruhe des Krieges, sinnloses Töten.
Natascha Astachowa erhob sich und stampfte die Beine warm. Gegen die liegenden Stämme trat sie, schlug mit den Armen um sich und gegen den Körper und massierte ihr Gesicht, bis die Haut brannte.
Der Wind trug die Laute mit sich fort. Klaus Gebhardt, im Wurzelwerk seines schützenden Stammes liegend, hörte die Geräusche. In der kalten Stille waren die
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