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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sagte Luka und betrachtete sein geschientes Bein. »So, wie wir's vorhatten, Täubchen –«
    Natascha ging in die Hütte und setzte einen Topf mit Wasser auf, wie jeden Abend, wenn sie eine Suppe kochen wollte. Merkwürdig war's auch in ihr. Es kam keine Freude auf über den Frieden. Sie hätte jetzt schlafen können … tagelang … wie Blei war's in ihren Gliedern. Und plötzlich weinte sie, setzte sich neben die offene Feuerstelle, starrte in die Flammen, die um den Kesselboden züngelten, und preßte die Hände auf das Herz.
    Sie hatte Angst vor Moskau, und sie wußte nicht zu sagen, warum.
    Von draußen stampfte Luka herein. Er hatte sich aus starken Baumstämmen zwei Krücken angefertigt. Es sah aus, als schwänge sich ein Bär zwischen zwei Riesenbäumen vorwärts. Das verwundete Bein hing an seinem Körper, als gehöre es gar nicht dazu.
    »Warum weinen, Nataschka?« fragte er und lehnte sich an die Tür.
    »Es ist Frieden, Luka –«
    »Darüber sollte man lachen, Täubchen …«
    Sie nickte, aber sie sagte etwas anderes. »Was sind wir denn ohne Krieg, Luka? Er hat uns zu Wilden gemacht … wie sollen wir uns zurückfinden zu den Menschen …?«
    »Wir fahren nach Moskau.«
    »Und dort?«
    »Es wird sich alles finden, Nataschka. Ein jedes Kind ist anders … aber die Mutter versteht sie. – Gehen wir zurück zu Mütterchen …«
    Sie standen auf dem Roten Platz und staunten. Die riesige, lange Kremlmauer lag im strahlenden Sonnenlicht, vor dem Leninmausoleum standen die Wachen wie aus olivgrünem Stein gehauen, die Dächer der Kremltürme blendeten die Augen.
    Luka saß auf dem Bock des kleinen Karrens und hatte den Arm wie schützend um Nataschas schmale Schulter gelegt. Das struppige Pferdchen stand mit gesenktem Kopf und betrachtete mit trüben Augen den gepflasterten Platz.
    »Ein Wunder ist's. Wirklich ein Wunder«, sagte Luka leise, als störe seine Stimme. Er sah sich um. Sie waren nicht allein, nein, der ganze riesige Platz war voller Menschen. Soldaten waren da, Städter – man sah's an ihrem Gebaren und den besseren Kleidern – und viele Bauern standen herum, in ihren langen Stiefeln, mit den ausgebleichten Kopftüchern und den langen, bis zu den Knöcheln gehenden Röcken. Sie alle starrten zum Kreml hinüber, strichen sich durch die Bärte, warteten und hielten die roten Fahnen bereit, um mit ihnen zu winken. Es hieß, Stalin würde sich heute zeigen. Er war von der Front zurückgekommen.
    »Wie kann man mit Steinen nur so was bauen? Unbegreiflich ist's, wirklich …« Luka sah zu den Türmen der Kathedrale empor, zum alten Zarenpalast, hinüber zu den Mauern, an denen die Moskwa vorbeifloß. Zum erstenmal sah er das Herz Rußlands, und er spürte es in sich klopfen, immer schneller und wilder, je länger er über den Roten Platz sah und die unbegreifliche Größe in sich aufnahm.
    Sie warteten eine Stunde, aber Stalin zeigte sich nicht. Statt dessen sprach ein Beamter des Kreml zu den wartenden Massen; dann erschien ein General und wurde beklatscht und bejubelt, obwohl niemand wußte, wer es war. Aber es war ein General, er trug eine Uniform mit vielen, vielen Orden, also mußte er sehr tapfer gewesen sein im vaterländischen Krieg und hatte ein Recht, bejubelt zu werden. Dann sangen alle die Internationale, schwenkten die roten Fahnen, hielten Bilder Stalins und Lenins empor und zogen singend am Mausoleum vorbei.
    Auch Luka defilierte mit. Er lenkte den klapprigen Wagen die Kremlmauer entlang und schrie den stummen Wachen am Eingang des Grabmals »Brüder, Brüder« zu. Ja, er hielt sogar an und stieß Natascha ganz vorsichtig, damit sie nicht vom Kutschbock fiel, in die Seite.
    »Sieh sie dir an, die Brüderchen«, sagte er verblüfft. »Diese Uniförmchen, so glatt und so sauber und so neu. Hast du bei uns solche Uniformen gesehen? Ungerecht ist das, sollte man meinen, wo wir gekämpft haben und sie nur Wache stehen bei einem Toten –«
    Diese Feststellung dämpfte seine vaterländische Begeisterung merklich. Er schrie nicht mehr. Ins Denken kam er plötzlich, der Idiot, und dachte an die Jahre in den Sümpfen.
    »Und wie gut genährt sie sind«, sagte Luka, ehe er vom Roten Platz herunterfuhr. Keine Ruhe ließ es ihm. »Und alles, weil sie Wache halten … Man kann's nicht verstehen, Täubchen.«
    Sie fuhren durch die Straßen mit ihrem struppigen Gäulchen und dem klapprigen Wagen und starrten die hohen Hauswände an, die blanken Fensterscheiben, die Geschäfte, in deren Auslagen nur

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