Natascha
Plakate hingen, sie fuhren durch die breiten Alleen und hielten vor den Kirchen und den alten Schlössern der zaristischen Großfürsten.
Sie sahen aber auch lange Menschenschlangen auf dem Bürgersteig stehen, alte Frauen und Kinder, mit Körben in den Händen und geflochtenen Taschen.
»He, was gibt's, Genossen?« schrie Luka vom Kutschbock zu ihnen hinunter. »Warum steht ihr hier?«
»Butter gibt's heute«, sagte ein Kind. »Hundert Gramm. Und für jeden vier Kartoffeln. Und wenn's reicht, noch etwas Milch.« Er sah zu Luka hinauf und glaubte, er sei ein Bauer. »Ihr könnt euch satt fressen«, sagte er gehässig. »Aber wartet nur … die schöne Kriegszeit ist vorbei. Bald kommt ihr wieder in die Sowchose …«
Stumm fuhr Luka weiter. Am Ufer der Moskwa hielt er an und sah zur Seite zu Natascha. Ganz still saß sie neben ihm, mit großen, traurigen Augen. Und bleich war es, das Vögelchen, ganz weiß im Gesicht, wie ein gebleichter Leinenlappen.
»Ganz von vorn müssen wir anfangen, Täubchen«, sagte Luka und kaute an den Haaren seines Bartes, die ihm in den Mund hingen.
Sie nickte. »Ich weiß es, Luka.«
»Und ein Zimmerchen müssen wir uns suchen.«
»Ja –«
»Und eine Arbeit.« Er nagte weiter an den Haaren und sah zu, wie zwei Männer einen Fisch aus der Moskwa zogen, sich scheu umsahen und ihn schnell in die Tasche steckten. »Verdammt, uns fehlen ein paar Rubelchen –« Er betrachtete das Pferdchen. Struppig war's, klein und knochig. Aber arbeiten konnte es, und genügsam war's, ein Eimer Wasser und ein Schüttchen Stroh, das war alles. »Ob wir's versuchen, Täubchen? Schaden kann es nicht.«
»Was?«
»Am Bahnhof. Mit dem Pferdchen. Keiner schleppt gern Koffer … man könnte sie fahren … mit dem Pferdchen …«
»Ideen hast du – «, sagte Natascha gedehnt. Aber sie bewunderte Luka. Nicht unterkriegen ließ er sich. Er war wie ein Baum in der Taiga … nach jedem Winter blühte er neu.
»Transportunternehmen Luka & Co.«, lachte sie. Luka atmete tief. Sie lacht, dachte er glücklich. Nataschka lacht. Wenn sie lachen kann, ist's wie eine wärmende Sonne in ihrer Seele.
»Dawai«, brüllte er. Die Zügel straffte er und das Pferdchen trabte davon, am Ufer der Moskwa entlang, der untergehenden Sonne entgegen. Und plötzlich sang er, der Riese, wie ein Bäumebrechen in einem engen Tal klang's, rauh und dröhnend.
Natascha riß ihn am Ärmel. »He! Wohin willst du?« schrie sie in seinen Gesang.
»Ein Zimmerchen suchen«, schrie Luka zurück. »Ein Zimmerchen muß es doch geben in solch einer großen Stadt –«
Aber es gab kein Zimmerchen. Der Beamte auf dem Wohnungsamt, zu dem sich Luka durchfragte, sah ihn groß an, als höre er ein chinesisches Märchen von der goldenen Nachtigall.
»Ein Zimmer, Genosse? Hier in Moskau?« Kaum zu begreifen war's. »Von welchem Stern bist du denn gefallen? Nicht mal ein Kanalloch ist frei. Ein Zimmerchen will der Kerl … fast ist es Sabotage –«
Er musterte Luka noch einmal, sein wildes Gesicht, das geschiente, leblose, in dicke Bandagen gewickelte Bein, diesen unwahrscheinlichen Riesenleib, und dann glitt sein Blick hinüber zu Natascha, dem zarten Vögelchen, das so still neben dem Riesen stand und sich ab und zu durch die langen, schwarzen Haare fuhr.
»Geht in euer Dorf zurück, Genossen«, sagte er milde gestimmt, als er den Anblick Nataschas in sich aufgenommen hatte. »Was wollt ihr denn hier?«
»Unser Dorf ist zerstört …«, sagte Natascha. Es war das erste Wort, das sie sagte, und der Beamte sah sie wieder an.
»Damit muß man rechnen, im Krieg, Genossen.«
»Und außerdem ist sie ›Heldin der Nation‹«, sagte Luka stolz. »Natascha Astachowa ist's, Leutnant der Roten Armee, Trägerin des Leninordens –«
»Ach laß es, Luka.« Natascha schüttelte den Kopf. »Frieden ist jetzt … was kümmert die Brüderchen unser Leben in den Pripjetsümpfen …«
Der Beamte senkte den Kopf. Noch einmal betrachtete er die beiden Bauern in ihren zerlumpten, stinkenden Kleidern. Dann hob er das Kinn und brüllte. O bei meiner Seele, er konnte brüllen, der Genosse Wohnungsamtbeamter. Gelernt hatte er es auf der Parteischule. Wer am lautesten brüllt, hat immer recht, war eine Weisheit, die er mitgenommen hatte. Und von jeher ist ein Muschik, ein so dreckiger russischer Bauer, in den Hintern getreten worden, und siehe an … er lief wie ein gutgeöltes Maschinchen. Das hatte sich auch nicht geändert durch die Revolution. Statt
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