Natascha
›Hundesohn‹ hießen sie jetzt zwar ›Genossen‹, aber ist das ein Unterschied, Freunde?
Also brüllte der Beamte los, wie er's gewohnt war. Empört war er, ehrlich und aus tiefster sowjetischer Seele.
»Ihr Mißgeburten«, schrie er grell. »Ihr wagt es, so etwas zu sagen? ›Heldin der Nation‹, Leninorden, Leutnant der besten Armee der Welt … ihr dreckigen Wanzen, ihr gebratener Kuhdreck! Hinaus, hinaus, ehe ich vergesse, daß ich ein höflicher Mensch bin.«
Es war die Sprache, die Luka verstand. Er hob die breiten Schultern, legte den Arm um Natascha und ging aus dem Zimmer.
»Sie sind merkwürdig, die Städter«, sagte er auf dem langen, weißgetünchten Flur des Amtes. »Sie glauben einfach nicht.«
Natascha lächelte schwach. Müde war sie, und mutlos dazu. Was war der Frieden nun, dachte sie manchmal. Man sollte ihn bejubeln, und man hat plötzlich Angst vor dem Leben.
»Ich wußte es, daß man uns nicht glaubt«, sagte sie. »Hier hat man einen anderen Begriff von den Dingen, Luka. Hier muß man Orden haben und Titel, und zeigen muß man sie.« Und das alles hatte man verloren, auf der Flucht durch die Sümpfe, die Orden, die Papiere, das Heldentum, bescheinigt auf einem Stückchen Dokument, auf dem der Name Stalins stand.
Luka humpelte aus dem Haus, kletterte ächzend auf seinen Kutschbock und schabte mit dem gesunden Fuß dem Pferdchen liebevoll über die magere, knochige Kruppe.
»Ein Zimmerchen bekommen wir«, sagte er dumpf. »Der Teufel hol's … sie kennen Luka nicht –«
Er schnalzte mit der Zunge, und das Pferdchen zog an und humpelte über das Pflaster. Ziellos, irgendwohin, aus der Innenstadt hinaus, vorbei an neuen Menschenschlangen, die vor einigen staatlichen Läden standen.
Vor einem breiten Haus hielt Luka das Pferdchen an und strich sich über das Gesicht. Am Rande der Stadt war's, und dunkel wurde es. Natascha saß müde neben ihm, sie hatte den Kopf an seine Schultern gelehnt und schien fast zu schlafen.
Luka musterte das Haus. Ein großer Stall war's, und ihn hatte man umgebaut, in lauter kleine Wohnungen und Kämmerchen. Dort hausten jetzt Arbeiter und Traktoristen mit ihren Frauen und Kindern.
Vorsichtig schob Luka den Kopf Nataschas von seiner Schulter weg. Sie wachte dabei auf und sah sich um.
»Wo sind wir?« fragte sie.
»Gleich hast du ein Bettchen«, sagte Luka. »Warte ein Weilchen … ich muß erst über die Miete reden –«
Stöhnend kletterte er wieder vom Kutschbock, nahm seine mächtigen Baumstämme unter die Achseln und humpelte durch die nächste Tür in das langgestreckte Haus.
»Grüß euch, siegreiche Genossen«, schrie er, als er die Tür der ersten Wohnung aufriß. Sein Erscheinen war wie das Niederbrechen einer Lawine. Die Menschen in dem kleinen Zimmer duckten sich, die Kinder krochen hinter die Erwachsenen und die Männer – zwei waren's, kleine, gelbhäutige, schlitzäugige Tataren mit hängenden, dünnen Schnurrbärten – spreizten die Beine, als gälte es, ein störrisches Kamel aufzuhalten.
Luka wartete keinen Gegengruß ab. Er sah sich um. Zwei Betten waren da, und im Zimmer saßen neun Menschen. Ein bißchen wenig Platz war's, zugegeben, aber wenn man zusammenrückte, war das Zimmer groß.
»Ein Bett brauche ich, Genossen«, sagte er. »Nur eins … man soll nicht unbescheiden sein. Das andere dürft ihr behalten. Ihr seid doch einverstanden, liebe Brüder …«
Die beiden Tataren starrten den Riesen an. Ihr Kopf hatte in einer seiner Hände Platz, und mit den Baumstämmen, die er als Krücken benutzte, konnte man Wände einschlagen oder ein ganzes Haus abstützen. Die Kinder steckten die Finger in den Mund, die Frauen schwiegen erschrocken.
»Nur für heute ist's«, tröstete Luka die stumme Klage. »Morgen suchen wir uns ein eigenes Zimmerchen. Aber erst schlage ich dem Beamten vom Wohnungsamt den Schädel ein. Ist's doch in eurem Sinn, Genossen, was?« Er lachte dröhnend, und die Tataren blickten scheu zur Decke, ob sie nicht einstürzte. Dann lächelten sie voller asiatischen Gleichmuts. Wie Frösche sahen sie aus, die abends im Schilf quaken.
»Nur einen Augenblick«, sagte Luka zufrieden. »Ich hole nur Nataschka …«
Als er mit ihr zurückkam in das Zimmer, saß jeder der Tataren auf einem Bett, in der Hand einen langen Dolch. Sie lächelten noch immer, und zusammengedrängt in einer Ecke warteten die Frauen und die Kinder. Luka stellte die halb schlafende Natascha an die Türwand und schüttelte den dicken
Weitere Kostenlose Bücher