Natascha
es sehr stark roch, verschloß sie sie wieder. Bei den Pillen und Tabletten war es anders. Sie rochen überhaupt nicht, waren alle weiß und flach und rund und schmeckten bitter, wenn man mit der Zungenspitze an ihnen leckte.
Natascha nahm aus einem Glas, das halb leer war, drei Tabletten heraus und löste sie in einem Becher Wasser auf. Sie sind am meisten gebraucht, dachte sie. Also können sie nicht schädlich sein.
Vorsichtig setzte sie das Glas an Lukas Mund, und als sie die Lippen nicht auseinander bekam, nahm sie die Faust und hieb Luka mit aller Wucht gegen das Gesicht. Er stöhnte auf, riß den Mund auf, und in diesem Augenblick goß sie ihm das Wasserglas in den Rachen. Dann fiel er wieder zurück in seinen Fieberwahn, und Natascha saß neben ihm, fünf Tage lang, kaum daß sie aß, und beobachtete ihn und gab ihm die Tabletten, die das Fieber wirklich herunterdrückten.
Nach sieben Tagen konnte Luka wieder klar sehen und erkannte Natascha. Er richtete sich auf, strich sich über das schweißnasse Gesicht und atmete tief, als habe er die ganzen Tage keine Luft bekommen.
»Das wird ein Leben, Täubchen«, sagte er mühsam. »Nicht mehr zum Militär muß ich. Bin ein Invalide geworden, ein Krüppelchen …«
»Wer hat dich angeschossen, Luka?« fragte sie. Luka sah sie groß an, dann drehte er sich auf die Seite und kratzte sich den Kopf.
»Ein Bauer war's«, brummte er und war froh, sie nicht ansehen zu müssen. »Er wollte mir nicht sein Schweinchen geben …«
Natascha wußte, daß er log. Aber sie schwieg. Sie kochte ihm eine dicke Suppe aus Hasenfleisch und Kohl, und Luka fraß sie auf … einen ganzen Kessel voll. Dann nahm er wieder seine Tabletten und schlief danach wie ein zufriedener Bär.
Das Fieber kam nicht wieder. Die Beinwunde verheilte schnell. Nur die Schiene mußte er weiter tragen und liegen, bis der Knochen sich gefestigt hatte. Und auch in den Zehen hatte er kein Gefühl, ja nicht einmal bewegen konnte er sie. Natascha sah es, und sie wußte, was es war. Ein Nerv war zerschossen worden, und Luka würde niemals wieder sein Bein gebrauchen können.
Aber er lebte, und er war fieberfrei über all die langen kommenden Wochen.
Die Tabletten hatten geholfen. Und, glaubt's mir, Freunde … es waren Tabletten gegen Schweinerotlauf –
Plötzlich war der Krieg zu Ende. Es kam so plötzlich, daß Luka mißtrauisch den Bart kratzte und meinte, es sei eine Falle. Ein lauer Maiwind strich über die Hütte, in Kaluga schoß man Triumphsalute, und Major Dobrik hielt nach dem Gouverneur eine Rede und lobte die Rote Armee und ließ die Massen »Bravo, bravo« schreien.
»Es muß wohl so sein«, sagte Natascha. Sie saß mit Luka draußen in der Sonne und hörte auf das Schießen, und sogar eine Glocke läutete.
»Es ist wirklich Feiertag«, sagte Luka und rieb sich die Augen. »Oder Stalin ist gestorben, weiß man's?«
Gegen Abend ritt Natascha vorsichtig bis an den Waldrand. Über Kaluga wehten die roten Fahnen, die Traktoren auf den Feldern waren mit Girlanden umkränzt, aus allen Fenstern wehten die roten Lappen. Am Ufer der Oka war ein großer Festplatz errichtet, und man briet einen ganzen Ochsen, den man irgendwo aufgetrieben hatte. »Mirr«, schrie man und sprang um den gebratenen Ochsen herum. »Mirr. Mirr.« (Frieden. Frieden.) Und von der Stadt her zogen lange Kolonnen mit Fahnen und Stalinbildern und sangen die Internationale.
Natascha ritt zurück zu Luka. Er saß noch immer vor der Hütte und rauchte in einer selbstgeschnitzten Pfeife getrocknetes Gras. Sein geschientes und dick bandagiertes Bein hatte er auf einen Baumstamm gelegt.
»Nun?« fragte er. »Frieden?«
»Ja, Luka. Sie tanzen und singen. Der Krieg ist vorbei …«
Luka nickte. Der Krieg ist vorbei, dachte er. So plötzlich und schnell. Habe ich es nötig gehabt, mir da ins Bein zu schießen? Wie kann man so plötzlich Frieden machen? Rücksichtslos ist das. Er sah zu Natascha hinauf. Auch sie sah nicht glücklich aus. Vier lange Jahre hatte man auf diesen Augenblick gewartet, in den Sümpfen hatte man gelebt wie Biber, und gekämpft hatte man, verbissen und grausam. Und gelitten hatte man und sich ins Bein geschossen, um diesen Tag zu erleben. Frieden! Kein Krieg mehr. Kein Morden. Kein Verstecken in den Wäldern. Und Fedja Iwanowitsch, der kleine Leutnant, hatte mitgesiegt. Er war einer der ersten, der getötet wurde, aber nun war es nicht umsonst. Rußland war frei –
»Nun könnten wir nach Moskau gehen«,
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