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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Die uralte Grausamkeit Rußlands brach aus ihr heraus und riß hinweg, was noch an Weiblichkeit in und an ihr war. Sie faßte den alten Feldscher mit beiden Händen um den faltigen Hals, schüttelte ihn, daß sein Kopf wie der Kolben eines Sumpfschilfes hin und her schwankte, riß den Greis vom Sitz empor und zerrte ihn würgend durch das Zimmer.
    »Wo ist es?« schrie sie ihm ins Ohr. Jusha konnte nicht mehr antworten, aber Natascha folgte der Richtung seines Blickes. Da ließ sie ihn los, und er plumpste auf die Dielen und verlor die Besinnung.
    In einem alten Schrank fand sie alles, was sie brauchte. Einige Rollen Verbände, Zellwolle, eine gebogene Schere, Gläser mit Tabletten und Pillen … alles, was sie sah, packte sie in den Rucksack, der in der Ofenecke neben dem Holzstapel lag, warf den Sack über den Rücken und lief aus dem kleinen Haus. Draußen stand das Pferdchen und zitterte. Das Wasser fror auf seinem Fell, denn noch waren die Nächte kalt, bis der Frühling ganz über das Land gezogen war.
    »Komm, mein Liebling«, sagte Natascha und schwang sich auf den Rücken des Pferdchens. »Wir müssen Luka retten … lauf zurück wie der Wind –«
    Wieder durchschwammen sie den Fluß und jagten zurück in die Wälder. Aber noch während sie ritt, rannte Viktor Viktorowitsch Jusha zur Kommandantur und verlangte beim Posten schreiend, den Genossen Major Washa Fjodorowitsch Dobrik zu sprechen.
    Major Dobrik hatte schlechte Nächte und noch schlechtere Tage gehabt. Als man den Unteroffizier und den Soldaten an der halbfertigen Grube fand, die Köpfchen zertrümmert wie geplatzte Tomaten, hatte Dobrik gebrüllt wie ein Büffel. Was half's jedoch? Der Riese war weg, niemand hatte ihn gesehen, und wer ihn gesehen haben könnte, der schwieg. Es gab Unannehmlichkeiten genug in diesen Tagen. Da waren zum Beispiel die Kartoffeln, die so knapp waren, daß man sie abzählen mußte. Und Fett gab es gar nicht. Ganz Kluge räucherten die Fische, die sie aus der Oka zogen, und dann schabten sie das Fischfett von der Haut und brieten darin ihre Kartoffeln. Es schmeckte etwas ungewohnt. Aber für den, der Hunger hat, war's ein Festmahl.
    Major Washa Dobrik tat dann etwas, was ihn sehr nachdenklich werden ließ und vor allem über die Konsequenzen nicht im unklaren lassen konnte: Er belog Moskau. Nicht daß dies eine Seltenheit war. Moskau war weit, und in Kaluga war Major Dobrik das große Herrchen … aber immerhin war es nicht so ganz alltäglich, zwei Tote zu verschweigen. Erst am dritten Tag meldete er die beiden Rotarmisten als vermißt, sehr entrüstet und sehr wütend. »Es ist eine Pest, Genossen«, schrie er ins Telefon. »Überall ist keine Moral mehr! So kurz vor dem Sieg, laufen sie davon. Man sollte sie alle zum Teufel wünschen.«
    Und nun kam dieser Viktor Viktorowitsch zu ihm, mitten in der Nacht, und sang ihm etwas vor. Im Hemd stand er da, der klapperdürre Gaul, und wieherte etwas von einem Überfall auf seinen Medizinschrank.
    »Eine Heldin der Nation war's«, jammerte Jusha und rang die Hände. »Alles hat sie mitgenommen, sogar den Wodka. Und dabei stand ›Gift‹ auf der Flasche.«
    Major Dobrik sah Viktor Viktorowitsch groß an. Das Aas ist besoffen, dachte er, und es tat ihm weh ums Herz, weil er gleich den alten Jusha ohrfeigen mußte. Man schlägt nicht gern einen alten Mann, auch nicht in Kaluga. Aber dann wurde er munter, als er von einem verwundeten Deserteur hörte, für den das Täubchen die Medikamente brauchte.
    »Wie hieß sie?« fragte er und knöpfte seine Uniformjacke zu. Das war dumm, denn unter der Jacke stand er in Unterhosen vor dem schlotternden Jusha.
    »Sie sagte: Natascha Astachowa … oder so ähnlich. Den Leninorden will sie haben. Hat man schon so etwas Blödes gehört, Genosse?«
    Major Dobrik lachte nicht. Er war sehr nachdenklich. Vorsorglich notierte er sich den Namen und die Stunde, in der man den guten Jusha so übel zugerichtet hatte. »Ich werd's melden, Genosse«, sagte Dobrik. »Ich glaube, wir haben da eine sehr gute Spur …«
    Dann warf er Viktor Viktorowitsch wieder hinaus, und der Alte rannte jammernd nach Hause, legte sich in sein Bett und dachte darüber nach, wie schlecht es doch sei, in einer solch wilden Zeit zu leben.
    Unterdessen saß Natascha neben dem Strohlager Lukas und las auf den Flaschen, was in ihnen war. Sie verstand es nicht. Eine fremde Sprache war's und viel Abkürzungen waren dabei. Da öffnete sie die Flaschen einzeln, roch an ihnen und wenn

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