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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Löchern des Eisenrahmens und ließen ein Loch frei, durch das Luka bequem die Füße stecken konnte.
    »Na also«, sagte er zufrieden, legte sich zurück und steckte die Beine durch die verbogenen und herausgerissenen Stäbe. »Nur überlegen muß man, Täubchen. Alles regelt sich von selbst …«
    »Im Sumpf hätte man dich lassen sollen«, schrie Natascha.
    »Zu spät ist's dafür.« Luka räkelte sich wohlig auf dem jetzt passenden Bett. »Nun habe ich eine Konzession …«
    Fast vier Wochen war es ein Leben, wie es ein normaler Sowjetbürger führt. Zur Arbeit ging man, aß in der Kantine, kam nach Hause und kochte sich eine Kohlsuppe oder einen aufgeweichten Trockenfisch. Zweimal lief man zum Roten Platz, weil ein Marschall aus Deutschland zurückkam, er zeigte sich dann auf der Kremlmauer, und man klatschte in die Hände und schrie »Bravo, bravo«. Auch eine große Parade wurde veranstaltet. Sechs Stunden lang zogen die Soldaten und die Delegierten aus allen sowjetischen Staaten an Stalin vorbei und jubelten.
    Es war ein großer Tag für Luka, denn er durfte an der Seite Natascha Astachowas an der Kremlmauer und dem Leninmausoleum vorbeiziehen. Man hatte Natascha eine Leutnantsuniform gegeben … in ihr marschierte sie, den Leninorden auf der Brust, als ›Heldin der Nation‹ in der ersten Reihe. Und direkt hinter ihr, die Schlange der marschierenden Soldaten wie ein Felsen überragend, hüpfte Luka auf seinen Baumstammkrücken. Auch ihm hatte man eine Uniform gegeben. Sie war aus drei normalen Übergrößen schnell in einer Kasernennäherei zusammengeflickt worden, denn es ging nicht an, daß ein Held wie Luka halbnackt vor Stalin paradierte.
    Nach diesem großen Erlebnis, aus dem Luka herausragte, weil er »Bravo« brüllte in dem Augenblick, als er an Stalin vorbeihumpelte, ging das tägliche Leben weiter, einerseits in der Oberkontrolle, andererseits mit dem Wägelchen und dem Pferdchen vor dem Hauptbahnhof Moskaus.
    Dann kam eines Tages in die Fabrik ›Große Wolga‹ eine Abordnung. Diesesmal waren es keine Neugierigen oder Staatstouristen, denen man den Aufstieg der Nation demonstrierte, sondern es waren vier Männer, von denen einer auffiel, weil er klein, zierlich und alt war, um seinen schmalen Kopf einen Wald weißer Haare trug und Hände hatte, die noch nie einen festen Gegenstand berührt zu haben schienen. Fast zart waren sie, durchsichtig wie Porzellan und beweglich wie die Glieder einer Marionettenpuppe.
    Der Mann hieß Waleri Tumanow.
    Natascha Astachowa kannte ihn nicht. Wäre sie aus Moskau gewesen, hätte sie bei seinem Anblick ein leises Herzklopfen bekommen. Sie sah es an den anderen Mädchen in der Halle und sogar an den biederen Brigadieren an der Kontrolle, wie sie die Köpfe verdrehten, den Mann herzlich begrüßten und sich räusperten wie ein Pfau, bevor er sich aufbläht.
    Waleri Tumanow ging durch die Hallen und lächelte. Auch zu Natascha in den kleinen Raum, dessen einzige Einrichtung ein Stuhl, ein leeres Schaltbrett und ein schwarzer Knopf darauf war, kam er und gab ihr die zarte, zerbrechliche Hand.
    »Das ist sie also?« sagte er. Und Gennadi Igorowitsch Popow schlug die Hände zusammen und strahlte über das fette Gesicht.
    »Sie ist's, Genosse Professor. Der Stolz der Fabrik. Undenkbar ist's, daß die Fabrik hat jemals arbeiten können ohne sie.«
    »Er übertreibt«, sagte Natascha. »In drei Wochen habe ich zweimal auf diesen Knopf da drücken müssen. Das ist alles.«
    »Aber die Verantwortung.« Gennadi Popow rollte mit den Augen. »Wir haben dreißig Prozent weniger Reklamationen. Wir haben schon einhundertsiebzig Prozent über dem Soll.«
    »Erstaunlich. Wirklich erstaunlich.« Waleri Tumanow gab Natascha wieder die Hand und verließ das Glaszimmerchen mit dem einsamen schwarzen Knopf.
    In der Mittagspause erfuhr Natascha, wer der kleine, weißhaarige, zarte Mann war. »Ein Staatskünstler«, erzählte man ihr. »Ein Stalinpreisträger. Einmal war er ein großer Sänger an der Oper in Leningrad. Jetzt bildet er die großen Künstler aus, in einem Anbau des Bolschoi-Theaters. Kargino, den Tenor, hat er ausgebildet und Ludmilla Bobrowa, die große Sopranistin. Jetzt will er einen großen Chor zusammenstellen, aus allen Fabriken die besten Sänger. Zweitausend Menschen soll der Chor haben, der größte Chor der Welt, Genossin. Staunen soll die Welt, wie wir Russen singen können. Morgen werden die Gesangsprüfungen beginnen …«
    An diesem Nachmittag sang jeder an

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