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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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seinem Arbeitsplatz. Nur die ganz Schlechten hörten wieder auf und grämten sich. Die anderen zwitscherten und grölten und bescheinigten sich gegenseitig, wie Schaljapin zu singen. Man hatte große Hoffnungen in der Fabrik ›Große Wolga‹. So ein Chor ist etwas Herrliches, Genossen … reisen würde man können, sogar ins Ausland sollte es gehen. Und eine Sonderverpflegung gab's, Künstlerzulagen und vom Staat gearbeitete Anzüge und Kleider, um der Welt zu zeigen, wie schön sich's lebt in der russischen Republik.
    An diesem Tag mußte Natascha sechsmal auf ihren Oberkontrollknopf drücken. Singen macht unaufmerksam, und Vorfreude noch mehr, man kann's verstehen, Freunde. Natascha wurde von dem Besuch nicht angesteckt. Sie hatte nie gesungen, doch ja, früher einmal, in Krassnoje Mowona, beim Erntefest, im Kuhstall, auf der Weide und im Komsomolzen-Chor während einer Feier der Oktoberrevolution in der stolowaja des Dorfes. Aber das war lange her … es war wie aus einem Leben, das man jetzt lesen konnte wie ein schönes Buch.
    Deshalb sang sie auch nicht mit, als die ganze Fabrik zu tönen begann, sondern sie konzentrierte sich auf die Prüfstände und vergaß am Abend sogar den Besuch des Waleri Tumanow.
    Am nächsten Morgen wurden die Mädchen zuerst, in Gruppen unterteilt, in den Versammlungssaal der Fabrik geführt. Mitten im Zimmer stand ein Klavier, und daran saß Waleri Tumanow und schlug ein paar Töne an, die jedes Mädchen nachsingen mußte, so gut sie es konnte. Auf einer Liste, die Tumanow vor sich auf dem Notenständer des Klaviers stehen hatte, machte er sich Notizen, dann nickte er und das nächste Mädchen mußte singen. »Ah … ah … ah … ah …«
    Genau 11 Uhr vormittags war es, als Natascha Astachowa in das große Zimmer trat. Waleri Tumanow nickte ihr zu wie einer alten Bekannten, aber er hob erstaunt die weißen Augenbrauen, als Natascha sagte:
    »Es ist vergeudete Zeit, Genosse Tumanow, mich zu prüfen. Ich habe keine Stimme, und ich will auch nicht singen.«
    »Das wird man sehen, Genossin ›Heldin der Nation‹«, sagte Waleri Tumanow, und es war, als sage er den Titel wie einen Spottvers. Vielleicht war's aber auch nur die Eigenart seiner Stimme als ehemaliger Sänger. »Nur ein paar Tönchen … ich schlage sie an und Sie singen sie nach. Uns allen macht's Spaß. Beginnen wir also –«
    Waleri Tumanow sah Natascha lächelnd und freundlich an. Dann tippte er auf eine Taste und ein heller Ton schwang im Zimmer. Natascha lauschte. Ein schöner Ton, dachte sie plötzlich. Wie in dem Märchen von den kleinen Silberglocken, das Mamaschka ihr als Kind erzählte. Ja, so mußten sie geklungen haben, so hell und schwebend …
    Natascha schloß die Augen und sang den Ton nach. Der Daumen, der die Taste niederdrückte, zuckte zurück. Der Silberglockenklang erstarb, aber eine andere silberne Glocke schwang weiter, und Waleri Tumanow starrte Natascha an mit den Augen eines wirklich Sprachlosen.
    Dann drehte er sich schnell zum Klavier herum und schlug einen anderen Ton an, und noch einen, und einen dritten, dann eine Reihe klingender Perlen, die hinauf- und hinabrasten wie schillernde Wassertropfen in den Kaskaden eines sonnendurchfluteten Springbrunnens.
    Die helle Stimme folgte ihm, und Waleri Tumanow sprang auf, rannte auf Natascha zu, umarmte sie und küßte sie, und rannte zurück zum Klavier und spielte neue Töne, neue schimmernde Kaskaden, ja es war wie ein Rausch, der über den alten Mann gekommen war und der auch Natascha mitriß in ein Land, das ihr fremd war und doch so heimatlich.
    »Ein Segen«, rief Tumanow, als er erneut aufsprang und Nataschas beide Hände ergriff. »Kind, Kindchen … wenn es bei uns noch einen Gott gäbe, ich würde sagen: Ein Wunder ist's, eine Gnade des Herrn. Du hast die Stimme eines Engels. Aus dir mache ich die größte Sängerin der Erde –«
    »Es wird unmöglich sein«, sagte Natascha. Der begeisterte alte Mann erschreckte sie. »Ich kann nicht singen … und Noten habe ich nie gelernt. Nur nach dem Gehör –«
    »Und wenn du dich nur hinstellst und einzelne Töne singst, wird die Menge rasen«, rief Waleri Tumanow. »Eine Offenbarung ist's … so muß es sein, wenn der Himmel aufreißt und die Ewigkeit sichtbar wird …«
    Er ist ein alter, übergeschnappter Trottel, dachte Natascha, als sie zurück zum gläsernen Kontrollkasten ging. Wie kann man das singen nennen, was ich da tue? Sie schüttelte den Kopf und verstand es einfach nicht.
    Waleri

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