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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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»Niemand drängt euch … Ihr scheint mir liebe Menschen zu sein …«
    Drei Tage später wachte Luka auf.
    Er hing in einem glänzenden Nickelgestell an einem riesigen Extensionsbügel, und den Streckzug besorgte ein Gewicht, das die Ärzte mit einer Handkarre herbeigerollt hatten.
    »Ihr Hunde!« brüllte Luka, als er seine Hilflosigkeit bemerkte. »Die Hölle hole euch! Soll ich so ein halbes Jahr lang liegen?«
    Und er beruhigte sich erst, als man ihm eine Schüssel voller Pudding brachte. Zwar war es nur ein Maispudding, mit Wasser angerührt, aber es war eine Schüssel voll Essen, und genau betrachtet war es das erste Essen, das sich Luka nicht selbst verdient hatte.
    Ab und zu besuchte Natascha Astachowa den operierten Luka und brachte ihm Obst mit, eine Seltenheit in diesen Hungermonaten, die nur für Natascha erreichbar war. Wenn sie weg war, verteilte Luka das Obst unter seine Zimmergenossen nach einem bestimmten Schlüssel. Zwei Stückchen bekamen die, die die besten Witze wußten, drei Stückchen die, die Brot an ihn ablieferten, aber fünf Stückchen bekam ein Mann, dem man die Galle entfernt hatte und der von Beruf Geiger war. Er saß jeden Tag an Lukas Riesenbett und versuchte, ihm die Grundzüge der Musik beizubringen. Niemand wußte, warum Luka Noten lernte. Man beneidete den Geiger nur um seine fünf Stückchen Obst, die er dafür bekam. Es war ein schwer erworbenes Honorar.
    Nach drei Monaten steckte Waleri Tumanow seine Schülerin Natascha in den Chor der Akademie. »So«, sagte er eines Tages nach den letzten Tonübungen. »Es scheint so, als habe deine Stimme die nötige Biegsamkeit. Wollen wir es vorerst mit einigen Liedern versuchen, ganz einfachen Liedern, ohne Anstrengung. Du wirst im Chor mitsingen.«
    »Das habe ich schon in Tatarssk getan, im Komsomolzen-Chor –«
    »Damals hast du gegrölt … heute sollst du singen.«
    Und wieder übte Natascha, sechs Wochen lang, eine kleine, schmale Sängerin inmitten siebzig anderen Chorsängerinnen. Russische Volkslieder waren es, die Tumanow einstudierte, und als die ersten Schneeflocken über Moskau rieselten und die Türme des Kreml weiße Mützen bekamen, erhielten die Choristinnen eine Uniform, weiße Blusen und hellblaue, weite Röcke, um die Stirn ein buntes Band, und Tumanow probte einen ganzen Tag ohne Unterbrechung, obwohl jede Sängerin ihre Lieder singen konnte, wenn man sie aus tiefstem Schlafe wecken würde.
    Ein einziges Sololied war in dem Programm, und dieses Lied sang Natascha Astachowa. Von Mussorgskij war es, ein kleines, wehmütig-süßes Liedchen mit dem Titel ›Dort am Don ein Garten blüht …‹ Waleri Tumanow hatte es mit Natascha wohl über hundertmal gesungen, immer und immer wieder, bis es nichts mehr für sie gab, als den Gedanken … dort am Don ein Garten blüht … dort am Don ein Garten …
    An einem Sonntag stand der Chor auf der Bühne der Akademie. Der große Saal war voll besetzt, und die Scheinwerfer glitten über die weißen Blusen, die hellblauen Röcke und die bunten Stirnbänder. Waleri Tumanow stand hinter der Bühne, in einem schwarzen Anzug. Er war nicht aufgeregt, das konnte man nicht sagen. Er war wie ein Mann, der ein großes Werk vollbracht hat und nun darauf wartet, daß man es anerkennt und bewundert.
    Vor einer Stunde hatte er noch eine Aussprache gehabt, und niemand wußte davon. Er war im Zimmer Anatoli Doroguschins gewesen. Jeder in Moskau kannte Doroguschin. Er war der Operndirektor des Bolschoi-Theaters, ein König der Musik, ein Kritiker, von dem man sagte, er habe sogar die große Ulanowa zum Weinen gebracht mit der Bemerkung: »Mein Großmütterchen hebt die Beine höher …«
    Ihn hatte Waleri Tumanow eingeladen. »Bringen Sie sich ein Taschentuch mit, Genosse Doroguschin«, hatte er gesagt. »Sie werden weinen müssen vor Glück, so etwas von einem Engel zu hören!«
    »Hoffentlich weine ich nicht um die verlorene Stunde«, hatte Anatoli Doroguschin erwidert.
    Nun saß Anatoli Doroguschin in der ersten Reihe des Saales, aber niemand im Chore wußte es. Er saß ein wenig zurückgelehnt und starrte auf die Bühne, wo die siebzig Mädchen wie blauweiße Schneeflocken im Scheinwerferlicht glitzerten. Er suchte diese sagenhafte Natascha Astachowa, die ›Heldin der Nation‹, die in den Sümpfen eine Partisanenkompanie geführt hatte und nun singen sollte wie ein Engel. Er schien sie gefunden zu haben, in der zweiten Reihe. Ein zartes Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und einem blassen

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