Natascha
Gesichtchen. Wie ein ängstliches, erfrorenes Vögelchen ist sie, dachte Doroguschin und verzog die Lippen. Wie kann aus einem solchen Körperchen eine Stimme kommen? Er übertreibt, der gute Tumanow.
Waleri Tumanow erschien auf der Bühne. Mit den bloßen Händen dirigierte er, kaum sichtbar, nur in den Biegungen der Finger lagen die einzelnen Stimmen, lag der Takt, winkten die Einsätze. Wie ein Puppenspieler war er, der zarte Fäden dirigierte, so dünn, daß sie unsichtbar waren.
Anatoli Doroguschin rückte an seinem Schlips. Was der Chor sang, war schön, gekonnt, klangvoll und präzise. Es waren junge Stimmen, gewiß, sie sangen noch sorglos … oder wenigstens klang es so, was bewies, welch ein guter Lehrer Tumanow war. Aber der Opernchor sang besser, und alles, was weniger gut sang als seine eigenen Leute, machte Doroguschin mißmutig und ungeduldig vor dem Ende.
Als Natascha Astachowa aus der zweiten Reihe vortrat – also ist sie's doch, dachte Doroguschin. Ich habe einen guten Blick, wahrhaftig! –, lehnte er sich wieder zurück und reckte den Kopf etwas hoch. Er sah, wie ihn Tumanow anblickte, und er erwiderte den Blick mit einem Blinzeln. Ich höre, mein Freund, sollte es heißen. Gleich wird sich's beweisen, ob du den Mund vollgenommen hast, Genosse.
Die Musik begann. Ein kurzes Vorspiel … wie spannend er es macht, der alte Fuchs, dachte Doroguschin. Dann hörte er plötzlich mit dem Denken auf, er konnte es einfach nicht mehr, es war ihm, als säße er plötzlich in einer Welt, die er nie zuvor erschaut hatte.
Die Stimme Nataschas lag über ihm wie eine goldene Wolke. Sie hüllte ihn ein, trug ihn mit sich fort, sie machte ihn schwerelos und entblößte ihn allen Willens.
Dort am Don ein Garten blüht, durch ihn geht ein Pfad.
Auf den Pfad schaue gern ich hin
an dem Fenster sitzend.
Einst erging sich auf dem Pfad Mascha spät am Abend.
Wahrlich ich vergeß es nie,
wie sie tief geseufzet.
Wie mit holdem Lächeln sie Antwort mir gegeben.
Wie ganz unbedacht
goß sie Wasser
aus dem Grunde.
Dort am Don ein Garten blüht, durch ihn führt ein Pfad …
Als es zu Ende war, das kleine Lied der Sehnsucht, riß Anatoli Doroguschin den Mund auf wie ein Fisch, den man an Land geworfen hat.
»Wunderbar!« schrie er unbeherrscht, noch ehe sich eine Hand zum Applaus rührte. »Wunderbar! So hat noch keine Frau gesungen!«
Erst dann ging seine Stimme im Händeklatschen unter, der Vorhang fiel, und Waleri Tumanow griff sich ans Herz und lachte wie ein Junger.
»Wo ist sie?!« rief Doroguschin, als er hinter der Bühne auf Tumanow prallte. Er schwitzte vom Laufen und tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn blank.
»In der Garderobe, Genosse.«
»Ich muß sie sehen. Sofort, Tumanow!«
»Warum?«
»Warum? Wie kann ein Mensch noch warum fragen?! Ich mache aus dieser Natascha die größte Sängerin der Welt. Sie wird meine neue Tatjana im ›Eugen Onegin‹ sein! Ich werde ihr die Welt zu Füßen legen! Wo ist sie, du Halunke!«
»Für Sie unerreichbar, Genosse Doroguschin.« Waleri Tumanow stellte sich ihm in den Weg, als er an ihm vorbei über die Bühne zum Garderobentrakt rennen wollte. »Tun Sie es nicht, Anatoli. Ich habe Ihnen einen kleinen Blick in ein Wunder gewährt … mehr nicht. Dieses Wunder muß gepflegt werden. Wir haben Zeit –«
»Zeit! Waleri Tumanow, Sie können eine solche Stimme nicht in Ihren stickigen Probesälen vergraben! Sie gehört der ganzen Menschheit!«
»Ich weiß. Und es wird auch so sein! In drei Jahren gebe ich Ihnen Natascha. Dann wird sie ein Stern sein, den nichts mehr vom Himmel reißt! Wir Russen haben immer warten können, wenn es um etwas Großes ging. Tun wir's auch jetzt, Genosse! Nun gut, Natascha kann singen … aber warten Sie ab, Doroguschin, wie sie in drei Jahren singen wird. Sie werden zum Weinen ein ganzes Bettuch gebrauchen müssen –«
Luka lag im Bett und hörte sich aus dem Radio die Übertragung des Konzertes an. Er wußte, was gesungen wurde, und er hatte die Noten des Liedes vor sich, das Natascha sang.
Aus seiner Drahtextension hatte man ihn herausgenommen, nachdem das neu gebrochene Bein wieder die Länge des anderen Beines erreicht hatte. Nun lag er in einem mächtigen Gipsverband, fast ebenso unbeweglich wie in dem Streckgerüst, und vertrieb sich die Zeit damit, jede Stunde mit donnernder Stimme zu schreien:
»Sanitäter – die Pfanne!«
»Man sollte ihm den Darm auch eingipsen!« schrie der geplagte Krankenpfleger und raufte sich
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