Nathanael
dass Cynthia versuchen würde, Nathanael in ein schlechtes Licht zu rücken, damit sie von ihm abließ. Natürlich hatte Tessa nicht geglaubt, die einzige Frau in seinem Leben zu sein, jeder besaß ein Vorleben, dennoch versetzte es ihr einen Stich. Doch sie gönnte Cynthia keinen Triumph.
«Ich weiß», log sie und schluckte gegen den harten Kloß, der gerade ihre Kehle hinaufwanderte.
Sie wollte mehr von der Schwarzhaarigen erfahren, auch, ob sie seine Geliebte gewesen war, aber Cynthia durfte nichts über ihre Gefühle wissen. «Uns verbindet lediglich der Auftrag.»
Viel zu hastig geantwortet , tadelte sich Tessa insgeheim selbst.
Cynthia atmete hörbar aus. «Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Nathanael ist wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt, ohne lange dort zu verweilen. Seit Gina hielten seine Beziehungen nie länger als zwei Nächte.» Die Prophetin lehnte sich an den Schrank zurück. Ihr bohrender Blick ruhte auf Tessas Gesicht.
Tessa überlegte eine Weile, ob sie Cynthia überhaupt antworten sollte. Sie nippte am Kaffee und betrachtete ihr Gegenüber über den Tassenrand hinweg. Cynthia wirkte in diesem Augenblick auf sie wie eine Spinne, die auf ihre Beute lauerte.
Was will sie von mir hören? Dass ich zugebe, mehr für Nathanael zu empfinden, als ihr wahrscheinlich recht ist?
Da konnte sie lange darauf warten, sie würde nichts preisgeben. Am besten wäre es, von sich selbst abzulenken.
«Gina? Wer ist das?», fragte sie daher.
«Sie war meine beste Freundin und die einzige Frau, die Nathanael je geliebt hat.»
Was macht dich da so sicher? Sicherlich hatte die Prophetin ihre Frage gelesen, denn sie verzog verächtlich den Mund.
«Wie sah sie aus, wie war sie?» Tessa war sich sicher, dass es diese Frau war, die zwischen ihr und Nathanael stand.
«Tja, wie war sie?» Cynthias Augen leuchteten. Sie schien mit einem Mal weit entfernt zu sein, in der Vergangenheit, bei Gina. «Mit ihrem Lächeln gewann sie alle Herzen. Sie war immer gut drauf und nahm nie etwas krumm. Aber sie war eine furchtlose Kämpferin. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte sie es aus. Nathanael hat sie vergöttert. Hier, ein Foto von ihr.»
Cynthia zog unter dem Tresen ein Fotoalbum hervor, dessen Einband aus knallrotem Plastik war.
Wie würde Gina aussehen? Schön? Elegant? Tessa platzte vor Neugier und gleichzeitig hatte sie Angst davor, ihrer unsichtbaren Konkurrentin entgegenzutreten.
«Ich besitze nur wenige Fotos. Eigentlich mag ich keine, weil sie einen Menschen nie so zeigen, wie er wirklich ist. Jetzt bin ich froh, sie zu besitzen. Mittlerweile hüte ich sie wie einen kostbaren Schatz, weil sie das Einzige sind, was mir von Gina geblieben ist.»
Cynthia schlug die erste Seite auf und schob das Album zu Tessa herüber.
Ein sympathisches Frauengesicht mit topasfarbenen Augen lachte ihr entgegen. Ginas dunkle Kurzhaarfrisur schmiegte sich um ihren Kopf wie eine Kappe. Anscheinend hatte sie gern und oft gelacht, das verrieten die Fältchen um Mund und Augen. Über die Stupsnase und die Hälfte der Wangen zogen sich unzählige Sommersprossen.
Irgendwie hatte sie sich Gina anders vorgestellt. Rassiger, sinnlicher, vielleicht wie Lara Croft aus Tomb Raider . Aber Gina entsprach mehr dem Durchschnittstyp der netten Nachbarin, wie jemand, den sie auch sympathisch gefunden hätte. Die Aufnahme musste im Sommer gemacht worden sein, denn sie trug ein Top, an dessen Trägerrändern sich ein Sonnenbrand abzeichnete. Das Sonnenlicht fiel direkt auf ihre Halsbeuge.
«Er hatte sie zu seiner Seelenpartnerin erwählt.»
Das klang, als müsste Tessa das verstehen. Es hörte sich esoterisch an. Fragend sah sie Cynthia an, die ihr das deutliche Gefühl vermittelte, unwissend und naiv zu sein. Dafür verstand sie mit Sicherheit nichts von Aktienkursen.
Die Prophetin sog tief die Luft ein. Ihre Miene wirkte starr wie eine Maske. «Nur Blutengel besitzen die Gabe, ihre Seele an eine Auserwählte zu binden.»
«Aha, und wie geht das?» Tessa war gespannt, mehr drüber zu erfahren.
«Die Seelen vereinen sich, wenn der Schöpfer es erlaubt. Nicht jeder besitzt das göttliche Privileg, der Seelenpartner eines anderen sein zu dürfen. Die Seele des Blutengels verlässt seinen Körper und taucht in den der Auserwählten ein. Ein kurzer Moment für die Ewigkeit.
Wenn sich die Seelen wieder trennen, hört jeder der beiden nicht nur seinen Herzschlag, sondern auch den des anderen. Für immer. Jeder
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