Nathanael
Blick.
«Ich habe dich nicht verarscht. Ehrlich.»
«Ach, ja? Dann hast du wohl nur was verwechselt? Der Gefallene war in der Nähe. Du hast ihn gesehen.»
Seth schluckte hart. «Ich war durcheinander …»
In Nathanael stieg eine unkontrollierte Wut auf, die sich in einer Explosion gegen Seth entladen wollte.
«Lügner. Du hast ihn und den Dämon gesehen, gib es zu. Jemand hat dich für dein Schweigen bezahlt. Also, wer war es?»
«Ich … ich …», stotterte der Nephilim.
«Lüg mich nicht noch einmal an.»
«Nein.» Seth klang ehrlich und die Angst in seinen Augen war offensichtlich.
«Ich höre.»
«Ich … ich kenn ihn nicht.»
«Du lügst schon wieder, ich sehe es dir an.»
«Der Gefallene wollte … mich auch hinunterstürzen … wenn ich … ihn verrate», stammelte der Nephilim und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Nathanael schnaubte verächtlich und stieß Seth von sich. «Wieso bist du wirklich in der Lexington gewesen? Die Nummer mit dem Kunden kaufe ich dir nicht ab.»
«Im Internet. Ich las was von … einem Deal. Eine ganz große Sache», fuhr Seth heiser fort. «Man bot mir zehntausend Dollar, wenn ich mitmache. Scheiße, ich brauch das Geld.»
«Was denn für ein Deal?»
«Seelenhandel. Jemand ist einen Deal mit Luzifer eingegangen. Deshalb konnte der Gefallene diese Welt betreten.»
Genau das hatte er vermutet. Nur wenn ein Mensch so wahnsinnig war, sich mit Luzifer einzulassen, konnte der Gefallene ungehindert diese Welt betreten. Eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf, die seine Furcht um Tessa wachsen ließ.
«Wer?»
Aber Seth schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Ein Sterblicher.»
«Du weißt es. Also, wer ist es?» Nathanael zog das Schwert aus der Scheide und hielt es Seth an die Kehle.
«Den Sterblichen kenne ich nicht, aber er muss sehr einflussreich sein. Der Gefallene ist Leviathan.»
Nathanael erstarrte und ließ das Schwert sinken.
«Leviathan …», murmelte er vor sich hin. Diesen Namen hatte er seit Ginas Tod nicht mehr gehört. Verdammt, wie hatte er nur glauben können, der Gefallene würde nicht mehr zurückkehren?
Der Schmerz in seinem Innern flammte erneut auf, als die Bilder vor seinem geistigen Auge vorbeizogen. Er erinnerte sich an jedes Detail.
Gina war gerade erst achtzehn gewesen, als ihre Eltern von einem Nephilim getötet worden waren. Nathanael hatte das verstörte Mädchen gefunden und sich aus Mitleid ihrer angenommen. Er brachte sie zu Cynthia, die sie wie eine Schwester aufnahm, obwohl sie ein Mensch war.
Aus dem anfänglichen Mitleid entwickelte er im Lauf der Zeit Zuneigung. Er hatte es für Liebe gehalten. Doch seitdem er Tessa kennengelernt hatte, wusste er, dass das, was er für Gina empfunden hatte, eher einer Mischung aus Mitleid und schwesterlicher Zuneigung geglichen hatte.
Gina war von dem Wunsch beseelt gewesen, den Mörder ihrer Eltern zu finden.
Als er eines Tages nach einem Auftrag ins Engelsghetto zurückgekehrt war, berichtete ihm Cynthia aufgeregt, dass Gina einen Anruf erhalten hätte und nach Brooklyn gefahren war. Der Anrufer war nicht nur ein Nephilim gewesen, sondern wurde auch wegen schwerer Körperverletzung von der Polizei gesucht.
Nathanael war ihr sofort hinterhergefahren. Aber als er in Sacred Hearts angekommen war, fand er sie sterbend zu Füßen der Statue seines Vaters. Ihr Körper war zerschmettert. Ein heiseres Röcheln, das ihm durch Mark und Bein ging, drang aus ihrer Kehle, während ihre Hand nach ihm tastete. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt.
Er ging neben ihr in die Knie und bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Immer wieder flüsterte er ihren Namen, während er spürte, wie das Leben aus ihrem Körper wich. Ihr schmales Gesicht war so bleich, die Wangen hohl und der strahlende Glanz ihrer blauen Augen erloschen, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen.
Als er Schritte hörte, sah er auf und erkannte Michael, der sie mit ausdrucksloser Miene betrachtete. Nathanael wusste, dass sein Vater Ginas Leben retten konnte, und flehte ihn an, ihr zu helfen. Aber Michael verweigerte seine Hilfe und überließ sie ihrem Schicksal. Von diesem Moment an hasste Nathanael ihn.
Nie würde er ihren verzweifelten Blick vergessen, bevor er leer und starr wurde und ihr Kopf zur Seite kippte. Es war einer der schlimmsten Momente seines Lebens gewesen.
Er trug die Schuld an ihrem Tod, weil er nicht da war, um sie zu beschützen. Hätte er doch nur die Vorzeichen richtig
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