Nathanael
an seine Schulter. Seine Wärme hüllte sie ein wie ein schützender Kokon.
Sie liebte ihn. Natürlich liebte sie ihn.
Das Intermezzo mit dem gut aussehenden Fremden führte sie auf eine hormonelle Irritation zurück, weil sie sich von Steven vernachlässigt fühlte. Du belügst dich selbst, denn es hatte sich bei ihm irgendwie besser angefühlt , meldete sich wieder die böse Stimme in ihr, die sie schnell unterdrückte.
Ein roter Strahl blitzte neben der Tür auf. Es war der Netzhautscanner, der den Eingang absicherte, wie ihn fast alle Wohnungen in diesem noblen Haus besaßen.
Nach einem kurzen Piepton schwang die Tür leise summend auf. Stevens Schritte wurden vom Teppichboden verschluckt. In der Wohnung herrschte eine angenehme Ruhe. Die schalldichten Fenster schlossen New Yorks Leben aus.
Der Blick durch die raumhohen Fenster auf die nächtliche Skyline mit ihren unzähligen Lichtern und Leuchtreklamen war atemberaubend. Wenn sie nicht so müde gewesen wäre, hätte sie es genossen. Doch ihre Lider waren schwer und fielen immer wieder zu.
Steven trug sie ins Schlafzimmer und setzte sie vorsichtig aufs Bett.
«Ich bin nebenan, wenn du mich brauchst», sagte er und streichelte ihre Wange. Sie nickte.
Als er gegangen war, kleidete sie sich aus und schlüpfte in das seidene Negligé, das kunstvoll drapiert neben ihr lag und auf dem sich stets eine Praline befand. Das war das Werk von Mary, Stevens Haushälterin.
Lächelnd legte Tessa die in goldene Folie gewickelte Schokolade auf den Nachttisch. Normalerweise konnte sie Süßigkeiten nicht widerstehen, aber heute wollte sie nur noch schlafen. Sie schlüpfte unter die Bettdecke und ließ den Blick durch den vertrauten Raum gleiten.
Hochglanzpolierte cremefarbene Schränke, innen beleuchtet, rahmten sie zu beiden Seiten ein. Nicht ein einziges Staubkörnchen war zu entdecken. In Stevens Wohnung fand sich kein Stück Nippes. Im Regal rechts vom Bett standen die Bücher nach Größe und Farben sortiert in den Fächern. Steven legte großen Wert auf Symmetrie und Ordnung.
Stevens Wohnung stand einem Fünf-Sterne-Hotel in Nichts nach. Jeden Morgen lag auf der Anrichte im Wohnzimmer die neueste Presse, in der Küche stand ein Korb mit Obst. Das Bad glich mit dem Kristalllüster und dem Marmorboden einem Tanzsaal, in dem sich der runde Whirlpool verlor. Wenn sie aus Stevens Wohnung aus dem Fenster sah, lag ihr New York zu Füßen. Der Ausblick war atemberaubend.
Auch Tessa liebte Offenheit und klare Linien, nur von den Fotos ihrer Eltern und ein paar Erinnerungsstücken aus ihrer Kindheit konnte sie sich einfach nicht trennen. Dennoch konnte sie sich manchmal nicht des Gedankens erwehren, dass die Wohnung bei aller Eleganz doch etwas nüchtern war. Ja, sie war luxuriös und geordnet wie die Suite eines Fünf-Sterne-Hotels – aber eben auch genauso wenig persönlich.
Doch momentan war es ihr gleichgültig, ob sie in einem Luxusbett oder einer Kiste schlief. Tief kuschelte sie sich in die kühle Satinbettwäsche und schloss die Augen.
Sie hörte Steven, der zum Bett kam und sich neben sie setzte. Nach einer Weile ergriff er ihre Hand und küsste sie. Tessa schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Ihr Lächeln erstarb, als sie seine düstere Miene bemerkte.
«Was ist los?», fragte sie.
«Ach, nichts. Es war ein anstrengender Tag. Schlaf jetzt.» Steven tätschelte lächelnd ihre Hand. Sein Lächeln konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas nicht stimmte.
Anstelle des üblichen Gutenachtkusses küsste er sie auf die Stirn. Irgendetwas schien zwischen ihnen zu stehen. Steven wirkte plötzlich fremd. Sicherlich tat er es nur aus Rücksicht auf ihre körperliche Verfassung. Dennoch war sie vage enttäuscht. Der Fremde hätte sie bestimmt auf den Mund geküsst , schoss es ihr durch den Kopf. Sie rief sich sofort zur Ordnung. Wie konnte sie Steven mit dem verwegenen, frechen Kerl vergleichen?
Steven stand auf und ging in den Salon. Mit einem Fingerschnippen löschte er das Licht.
Sie hörte, wie er zur Bar trat und Gläserklirren. Der holzige Geruch von Single Malt Whisky wehte herüber. Er kippte das Glas mit einem Zug hinunter und goss sich zum zweiten Mal ein.
Wenig später rauschte das Wasser in der Dusche. Bei dem gleichmäßigen Geräusch nickte sie ein und wachte auf, als er in seinem seidenen Schlafanzug zu ihr unter die Decke kroch. Er legte immer großen Wert darauf, dass Mary seine Pyjamas bügelte. Selbst im Bett wirkte er wie ein
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