Nathanael
Harold?»
«Ja, ja», gab er nach und seufzte. Schon eilte er zur Tür. Bevor er die Klinke fasste, drehte er sich noch einmal zu ihr um.
«Übrigens, ich habe vorhin Ernest angerufen und ihn gebeten, sich um dich zu kümmern.»
«Danke, aber ich brauche keinen Babysitter.»
«Er soll dich von deinen Grübeleien ablenken. Ich bin nicht gut im Trost spenden. Das ist doch die Aufgabe eines Priesters.»
Sie liebte ihren Bruder, dennoch hätte sie lieber Steven an ihrer Seite gewusst. Er kam noch einmal zurück und küsste sie. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Wieder löste Steven sich aus der Umarmung.
«Ich würde ja auch gern hier bleiben, Darling, aber …», sagte er zwischen zwei Küssen.
«Ja, ja, ich weiß. Beeil dich, sonst verpasst du noch den Flieger.
«Wenn ich zurück bin, holen wir alles nach. Pass auf dich auf, okay?»
Jetzt war in seine Augen wieder dieser gewohnt liebevolle Blick zurückgekehrt. Das versöhnte sie etwas. Dennoch fühlte sie eine unglaubliche Leere in sich.
Drei lange Wochen ohne Steven standen ihr bevor, in denen noch dazu Hazels Beerdigung stattfand. Wie sollte sie das alles allein durchstehen? Ihr Handy klingelte auf dem Nachttisch.
«Hi, Ernest», begrüßte sie ihren Stiefbruder.
«Hi, Liebes. Steven hat mich gestern Nacht noch angerufen.»
«Ich weiß.»
«Das mit Hazel tut mir entsetzlich leid. Wie geht es dir jetzt? Möchtest du vielleicht nach dem Sonntagsgottesdienst zum Lunch kommen?»
Ernest wohnte in einem bescheidenen, aber gemütlichen Häuschen neben seiner Baptistenkirche in Harlem. Er lebte für und mit seiner Gemeinde. Normalerweise machte es Tessa nichts aus, am Gemeindetisch mit den anderen zu essen, aber heute konnte sie deren Fröhlichkeit nicht ertragen. Sie musste in Ruhe über Hazel und die Geschehnisse des letzten Abends nachdenken.
«Lieb von dir, aber heute nicht. Sei nicht böse, ich brauche einfach Zeit für mich.»
«Ja, ja, natürlich. Wenn du es dir anders überlegen solltest, bist du herzlich willkommen. Ich sehe gegen Abend bei dir vorbei.»
«Fein, dann bis nachher.»
Sie war froh, dass es ihn gab. Wenn sie auf einen Menschen nach dem Tod ihrer Eltern hatte zählen können, dann auf Ernest, gleichgültig wann und wo. Steven hatte recht: Ernest besaß das nötige Feingefühl und wusste, wie er sie trösten konnte.
Sie lief zum Fenster hinüber und öffnete per Knopfdruck die Vorhänge. Ganz Manhattan lag ihr zu Füßen. Heute war der Himmel strahlendblau mit winzigen Wattebauschwolken. Nur ein schmaler rosa Streifen am Horizont erinnerte daran, dass die Sonne erst vor Kurzem aufgegangen war. Die gläsernen Hochhausfassaden glitzerten im Sonnenschein wie Edelsteine. Selbst früh am Sonntagmorgen herrschte bereits reger Betrieb in den Straßen. Aus dem zwanzigsten Stock sahen die Autos und Menschen wie Spielzeug aus.
Ein sonniger Frühlingstag, der Hazels Tod wie einen Alptraum erscheinen ließ.
Vielleicht würde ein Spaziergang im Central Park ihren aufgebrachten Nerven guttun. Zu dieser frühen Stunde traf man dort nur vereinzelte Jogger und Leute, die ihre Hunde ausführten.
Eine halbe Stunde später machte Tessa es sich auf einer der Parkbänke gemütlich und beobachtete die Kinder, die auf dem Rasen tobten. Ihr wurde das Herz wieder schwer, als sie daran dachte, wie Hazel und sie einst hier herumgetollt hatten. Sie hörte noch immer ihre Stimme und ihr Lachen, als stünde sie neben ihr.
Doch nun war alles vorbei. Nie mehr mit der Freundin reden können, all die albernen Kaffeetreffen mit Klatsch und Tratsch verbringen und stundenlang durch Museen streifen. Das gehörte der Vergangenheit an.
Es fiel ihr schwer, die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick nach Hazel suchte, als könne sie um die nächste Ecke biegen und ihr freudestrahlend zuwinken, so wie sie es immer getan hatte.
Die Hoffnung, Sonnenschein und klare Luft könnten ihre Gedanken vertreiben, zerschlug sich. Tessa stand auf und kehrte zum Wagen zurück.
Auf dem Weg durch den Park beschlich sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie drehte sich mehrmals um, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Schuld an ihrer übertriebenen Reaktion war sicher ihr gestriges Erlebnis, der Kerl mit den rot glühenden Augen, der sie so in Panik versetzt hatte, dass sie schon zitterte, wenn sie eine Bewegung wahrnahm.
Der Weg schlängelte sich unter den frühlingslichten Baumkronen
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