Nathanael
gewesen, das Schlimmste, was sie außer Hazels Sturz erlebt hatte. Und dann war der Mörder wie ein Vogel durch die Luft davongeflogen.
Das gab es nicht! Niemand besaß angewachsene Flügel, mit denen er sich in die Lüfte erhob. War sie schon so verwirrt, dass ihr ihr Geist Visionen vorgaukelte?
Tessa würgte. Ihr Magen ballte sich zusammen. Sein säuerlicher Inhalt stieg ihr die Speiseröhre nach oben. Schnell drehte sie sich um und erbrach sich.
Mit einem Taschentuch tupfte sie sich anschließend den Mund ab und lehnte sich keuchend gegen die Mauer. Sie sah zu dem Toten hinüber und traute ihren Augen nicht. Anstelle der Leiche befand sich auf dem Asphalt ein großer glühender Klumpen, wie ein riesiges Stück Holzkohle, das allmählich zu Asche zerfiel. Ihr wurde schwindlig. Sie musste hier schnell verschwinden. Vielleicht kehrte der Blonde zurück.
Auf wackligen Beinen lief sie zu ihrem Wagen.
Seit Hazels Tod geriet sie von einer Katastrophe in die nächste. Die Freundin musste den Teufel heraufbeschworen haben, anders konnte sie sich das nicht erklären.
Die Realität ist viel dunkler, als du glaubst. Komm runter von deiner Wolke der Illusion , mahnte sie ihre innere Stimme.
Alles, woran sie in all den Jahren geglaubt hatte, erschien wie eine Farce. Wo endete die Realität und wo begann die Fiktion? Die Grenzen zwischen beiden verschwammen. Wer wusste außer ihr noch von der Existenz übernatürlicher Wesen?
Was musste sie noch alles entdecken? War das überhaupt noch ihre Welt? Tausend Fragen bestürmten sie, auf die sie keine Antwort besaß. Sie war geschockt und verwirrt.
Tessa brauchte mehrere Versuche, um den Motor zu starten. Mit voller Wucht trat sie aufs Gaspedal. Der Wagen schoss nach vorn und raste mit quietschenden Reifen die Straße entlang.
Sie wusste nicht, wie lange sie durch Manhattan gefahren war, als sie den Wagen vor Ernests Haus parkte. Alles war an ihr wie in einem Zeitraffer vorübergezogen, die Häuser, die Lichter und die Wagen. Sie konnte nicht mal sagen, welche Straßen sie benutzt hatte.
In Ernests Arbeitszimmer brannte noch Licht. Oft ging er erst weit nach Mitternacht zu Bett.
Als die Glocke im Kirchturm schlug, schrak sie zusammen. Damals nach dem Raubüberfall hatte jedes kleinste Geräusch Ängste heraufbeschworen. Es war so schlimm gewesen, dass sie sich kaum noch vor die Tür getraut hatte. Beim Zerplatzen eines Luftballons war sie einmal sogar unter den Tisch gekrochen. Ein verdammter Teufelskreis. Sie fürchtete sich davor, das von Neuem zu erleben.
Nach dem heutigen Erlebnis musste sie mit jemandem reden. Ernest war der Einzige, dem sie sich anvertrauen konnte.
Tessa schluckte und drückte auf den Klingelknopf. Während sie auf Ernest wartete, schaute sie sich um. Sie hätte Amok laufen können, so durchgedreht war sie.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die weiße Holztür vor ihr öffnete und er auf der Schwelle erschien. Das Lächeln in seinem Gesicht wich einer besorgten Miene. Seine Brauen schnellten nach oben.
«Tessa? Du bist leichenblass. Ist wieder was passiert?»
Hastig schob sie sich an ihm vorbei und stürmte den Flur entlang zu seinem Arbeitszimmer.
Ernest folgte ihr. «Willst du mir nicht sagen, was los ist? Du bist ja völlig durcheinander.»
«Gleich.» Ihr Körper bebte vor Anspannung. Sie musste alles loswerden, ihre Erlebnisse, ihre Angst. «Sorry, ich weiß, es ist mitten in der Nacht, aber ich habe so gehofft, dass du noch wach bist und ich mit dir reden kann.»
Ernest schloss hinter ihr die Tür des Arbeitszimmers.
«Ja, natürlich. Du kannst jederzeit mit mir reden. Das sagte ich doch schon.» Sein Verständnis tat gut. Trotzdem hatte sie immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihn zu so später Stunde störte. Sein Dad hatte das nie gemocht, wenn sie in der Nacht wegen eines Alptraums geweint und nach ihm gerufen hatte.
Die Schreibtischleuchte spendete das einzige Licht im Raum. Darunter lag die aufgeschlagene Bibel.
«Ich bereite mich gerade für den Bibelkreis vor», erklärte Ernest, als er ihren Blick bemerkte.
Er schob sie auf einen der Shakerstühle zu, die vor dem Schreibtisch standen. Erschöpft sank sie nieder. Ernest blieb stehen und lehnte sich gegen die Schreibtischkante. Schweigend ruhte sein Blick auf ihr.
Anfangs stotterte sie, weil sie noch immer erregt war, doch dann flossen die Worte. Sie redete und redete, bis ihr Stiefbruder sie stoppte.
«Ich habe von solch einem Kampf schon einmal
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