Nathanael
war als Jugendlicher in kriminelle Kreise geraten und lebte seitdem außerhalb des Ghettos. Auch wenn er nicht aushalf, besuchte er das Hell’s regelmäßig. Dann blieb er wieder wochenlang fern, wegen irgendwelcher dubiosen Geschäfte. Anscheinend derzeit in Hongkong.
Er kannte Gott und die Welt. Weil alle von seinen Informationen profitierten, fragte ihn keiner nach der Legalität seiner Geschäfte. Nathanael wusste nicht mal, welcher Gefallene sein Vater war. Hier im Ghetto, wo alle zusammenlebten, die das verfluchte Engelsblut verband, fragte niemand nach der Vergangenheit des anderen. Es war ein Tabu.
Nathanael mochte Seth nicht sonderlich. Mal verscherbelte er eine Ladung neuwertiger Computer zum Spottpreis in andere Bundesstaaten oder er kaufte dutzendweise billige Handys auf, die er teuer in Spanish Harlem an frisch emigrierte Latinos veräußerte. Es kam nicht selten vor, dass ihn jemand verklagen wollte, aber Seth war gerissen genug, sich immer wieder aus der Lage herauszumanövrieren.
Nathanael missfiel es, dass der Nephilim nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war. Woher mochte jedes Mal das Geld stammen, das er für die Käufe benötigte? Er hatte ihn oft genug gefragt, aber Seth wich gezielten Nachfragen stets aus.
Als er Nathanael erkannte, hob der Nephilim im Vorbeigehen die Hand zum Gruß.
«Bin spät dran. Cyn wird mir ’ne Standpauke halten. Aber ich hatte noch ’nen Kunden am Telefon.» Gierig zog er an der Zigarette, die in seinem Mundwinkel klemmte.
«Wo hast du deinen Wagen gelassen?», fragte Nathanael irritiert. Weil er sich stets verfolgt fühlte, bewegte der schmächtige Seth sich eigentlich nie ohne Auto, selbst wenn es nur wenige Meter bis zum Supermarkt waren. Irgendetwas stimmte nicht, wenn der Nephilim zu Fuß unterwegs war. «Musstest du den etwa verpfänden, um deine Gläubiger auszuzahlen?»
Obwohl Nathanael es scherzhaft sagte, ließ er den Nephilim nicht aus den Augen. Seths Miene blieb ausdruckslos. Er stoppte und sah zu Nathanael auf. «Nee, mir ist einer reingefahren. Der ist Schrott. Bin mit der U-Bahn hier.»
«Keine Angst, dass dich einer verfolgt? Vielleicht ein Dämon?»
«Meine Seele ist genauso schwarz wie ihre. Weshalb sollten sie mir was tun? Und was Menschen betrifft … das Baby weiß mich zu verteidigen.» Grinsend zog er aus seiner Jacke eine Browning 9mm und hielt sie Nathanael vor die Nase, bevor er mit einem Lachen weiterzog.
In Seths Nähe beschlich Nathanael immer ein ungutes Gefühl, als verberge der andere Mann etwas. Doch heute hatte er keine Lust, sich weiter über den Nephilim Gedanken zu machen.
Er lief weiter die Straßenschlucht entlang. Über allem schwebte die dunkle Aura des Dämons, die über seine Haut kratzte wie eine Rasierklinge. Nathanael verharrte einen Augenblick auf der Stelle, um sich auf ihn zu konzentrieren.
Manchmal gelang es ihm, alles mit den Augen des Dämons zu betrachten. Heute jedoch waren die Bilder vor seinen Augen nur bruchstückhaft: ein ausladender, asphaltierter Platz mit weißer und schwarzer Aufschrift, ein Fluss.
Der Dämon lief über den Landeplatz, von dem aus die Touristen Flüge über New York starteten. Deutlicher erkannte Nathanael jetzt die grauen Lagerhallen im Hintergrund. Das war nicht weit entfernt.
Beim letzten Mal wäre es ihm fast gelungen, den Dämon zu fassen, wenn ihm da nicht Tessa in die Quere gekommen wäre, als sie vor dem Bus auf die Straße gestürzt war. Nach seiner Rettungsaktion war der Dämon über alle Berge. Und ohne den Dämon würde er auch den abtrünnigen Engel nicht ausfindig machen.
Er hastete los in Richtung 12th Avenue. Diesmal musste er diese Höllenbrut erwischen. Und dann würde er sich an die Fersen des abtrünnigen Engels heften.
Die Spur führte Nathanael über den Landeplatz zu einem Depot. Er hockte sich hin und strich mit den Fingern über den Asphalt. Wenn ein Dämon sich seiner Kräfte bediente, um sich zu tarnen, verpuffte ein Teil seiner Energie zu schwarzem Staub, der deutliche Spuren hinterließ.
Nathanael rieb das Pulver zwischen seinen Fingern. Unwissende konnten es leicht mit Ruß verwechseln, der aus Kaminen stammte. Dämonenstaub war jedoch viel körniger, und wenn man ihn ins Licht hielt, schimmerte er rötlich.
Er hatte sich nicht geirrt, der Dämon war hier gewesen. Nathanael erhob sich und klopfte seine Hände an der Jeans ab, bevor er an den aufgestapelten Containern vorbeilief.
Vor einer der Hallen entdeckte er frische Bremsspuren eines
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