Nathanael
hob ihr Bein an und holte aus, als der Dämon sie plötzlich weiterzog, so schnell, dass sie glaubte, geträumt zu haben. Seine Kräfte waren beeindruckend. War es ihm etwa auch möglich, ihre Gedanken zu erraten? Bei der Vorstellung wurde ihr übel.
Er presste sie in einer Ecke gegen ein Fass, das nach Teer und Benzin stank. Noch immer ruhte seine Hand auf ihrem Mund, als hätte er ihn versiegelt.
Der Lichtstrahl einer Taschenlampe strich über den Boden, ohne sie zu erfassen. Das konnte doch nicht wahr sein. Tessa ballte ihre Hand zur Faust und schlug gegen das metallene Fass.
Plötzlich sah sie die beiden Cops unter sich. Es brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass der Dämon an der Wand emporkletterte und sie aufs Dach trug, eine Hand noch immer auf ihren Mund gepresst.
Oben angekommen ließ er sie abrupt los, sodass sie ins Stolpern geriet und rückwärts hinschlug. Sie konnte sich nicht mehr abfangen und prallte mit dem Kopf auf das kalte Metall. Ihr Schädel bestand nur noch aus Schmerz und sie versank in tiefe Dunkelheit.
11.
Nathanael verließ die Hell’s Bar durch den Hintereingang und steckte sich eine Zigarette an. Genussvoll inhalierte er den Rauch mit ein, zwei tiefen Zügen und schnippte den Stummel anschließend fort. Er beobachtete, wie die Glut in einer Pfütze erlosch. Rauchen war schädlich. Na und? Ein Laster seiner menschlichen Hälfte.
Manchmal überwog eben die irdische Seite in ihm, wie neulich, als er Tessa geküsst hatte. Es war nur ein Kuss , hatte er zu ihr gesagt und damit sie und sich selbst belogen.
Am Anfang hatte er sie nur provozieren wollen. Doch als er von der Süße ihres Mundes gekostet hatte, war ihm die Kontrolle entglitten. Als sie die Liebkosung voller Leidenschaft erwidert hatte, hatten ihn die Gefühle überrollt. Sein Körper bestand nur noch aus zügelloser Begierde. Unwillkürlich fragte er sich, wie es wohl sein mochte, wenn sie sich liebten, wenn schon banale Küsse so ein Gefühlschaos in ihm auslösten.
Umso härter hatten ihn ihre Worte getroffen, als sie den anderen erwähnt hatte, zu dem sie gehörte. Es war, als hätte ihm jemand ein Schwert in den Leib gerammt. Hatte sie ihn nur aus Einsamkeit und Frustration geküsst? Galt die Liebkosung nicht ihm, sondern dem anderen? Mit einem Schlag hatte sich alles verändert.
Verdammt! Könnte er sie doch nur vergessen.
Wütend kickte er eine leere Bierdose vor seinen Füßen weg.
Mit weit ausholenden Schritten überquerte er den Hinterhof und bog in eine Straße ein, die zum Hafenviertel führte. Eine kühle Brise wehte ihm entgegen, die den Geruch von Fisch und Teer mit sich trug. Irgendwo in der Ferne erklang dumpf das Nebelhorn einer der Fähren, die nach Staten Island übersetzte.
Die meisten der Gebäude in diesem Viertel waren Lagerhallen, vollgestopft mit Warencontainern, die darauf warteten, verladen zu werden. Selten verirrte sich abends jemand hierher.
Die Hell’s Bar , der geheime Treffpunkt der Blutengel und anderer Nephilim, war nur wenigen Menschen bekannt.
Nathanael fand die Bezeichnung Bar hoch gegriffen, der Begriff Spelunke wäre vermutlich treffender. Unter einer Bar stellte er sich ein gediegenes Ambiente vor, mit samtigem Teppichboden und einer Theke aus Edelholz, nicht einen dunklen Raum mit Plastikmöbeln und Spinnweben, die von der Decke hingen.
Sein Zimmer befand sich ein Stockwerk höher. Früher war er oft in weiblicher Begleitung hierher gekommen, wenn es ihn nach Sex gelüstete. Aber mit der Zeit war ihm die Lust auf flüchtige Affären vergangen, die nichts als Leere in ihm hinterließen. Vielleicht sollte er es mit den Frauen einfach ganz lassen?
Ein Lächeln kräuselte seine Lippen. Wenn eine Frau so verführerisch war wie Tessa, geriet dieser Vorsatz allerdings ins Wanken.
Hinter ihm knarrte eine Tür.
«Nathan?»
Er drehte sich um und erkannte die Blonde, mit der er neulich eine Nacht verbracht hatte. Ein Ausrutscher, den er tief bereute. Ihre Absätze klackerten auf dem Asphalt. Sein Blick glitt über ihre schlanke Figur.
Wie war noch ihr Name? Den hatte er schon vergessen, wie bei allen anderen auch.
Bis auf Tessa. Sie würde er nicht so schnell vergessen. Und dabei hatten sie sich nur geküsst.
Wie ein Storch stolzierte die Blonde ihm auf ihren High Heels entgegen.
Nathanael zog die Brauen hoch und starrte gebannt auf ihre Füße. Wie konnten Frauen nur auf solchen Dingern gehen, ohne sich die Beine zu brechen? Tessa lief auf flacheren Absätzen, was
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