Nathanael
betretenes Schweigen, bis Nathanael sich scheinbar zu einer Erklärung genötigt fühlte. «Cynthia ist nur knapp einem Anschlag entronnen.»
Tessa sah sie fragend an.
«Engelsschwerter.» Cynthia tippte mit dem Finger auf ihre entstellte Wange.
«Aber das sind doch Brandnarben.»
«Engelsschwerter hinterlassen keine Schnitt-, sondern Brandwunden», erklärte sie. Ihre Augen wirkten mit einem Mal starr und dunkler als eben.
Tessa nickte und betrachtete Cynthia. Was hatte dazu geführt? Kaum hatte sie die Frage gedacht, erhielt sie die Antwort.
«Ich bin das Kind eines Gefallenen. Ein roter Nephilim. Die Gewalten haben vor einigen Jahren Prophetinnen verfolgt und getötet. Mich haben sie verschont, weil ich meinen Vater verraten habe. Aber sie haben mich mit diesen Narben gebrandmarkt. Damit mich jeder als Kind Azazels erkennt.»
Tessa erschrak über den Hass und die Bitterkeit, die in ihrer Stimme lagen. Weshalb half sie dann ausgerechnet den Blutengeln?
Dieses Mal antwortete Cynthia ihr nicht, aber der warme Blick, den sie Nathanael zuwarf, beantwortete Tessas Frage.
Cynthia war ihr unheimlich. Die Vorstellung, jemand könnte ihre Gedanken lesen, missfiel ihr. Hatte Cynthia vielleicht nur geraten oder war sie wirklich eine Prophetin?
«Hat Nathan Ihnen verschwiegen, dass ich eine Prophetin bin? Sieht ihm ähnlich. Bei schönen Frauen vergisst er alles.»
Sie konnte tatsächlich ihre Gedanken lesen. Und schwang in ihrer Stimme etwa Eifersucht mit?
Nathanael ging auf ihre Bemerkung nicht ein. Stattdessen schilderte er in knappen Sätzen, was Tessa widerfahren war. «Kann sie für eine Weile hier bleiben?»
Nachdenklich ruhte Cynthias Blick auf Tessa. «Ich habe eigentlich kein Zimmer mehr frei. Aber für dich, Nathan, mache ich eine Ausnahme. Aber nicht für immer.»
«Du hattest schon immer eine Schwäche für mich. Gib es zu, Cyn.» Nathanael zwinkerte ihr zu und Cynthia lachte kurz auf.
Tessas Blick flog zwischen ihnen hin und her.
In welchem Verhältnis mochten beide zueinander stehen? Freunde? Oder sogar mehr als das?
Cynthias Augen verengten sich zu Schlitzen, ihr Lächeln erlosch schlagartig. «Ich verstehe», sagte sie gedehnt.
Was verstand sie? Tessa bemerkte, wie Nathanael sich versteifte. Sie konnte die plötzlichen Spannungen zwischen beiden spüren. Cynthia musste ihre Gedanken gelesen haben, die ihr Interesse an Nathanael bekundeten. Aber Tessa war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Ehrlich gesagt war Cynthia ihr jetzt egal und alles andere auch.
«Ich bin erschöpft und brauche Schlaf. Wo ist denn nun das Zimmer?», drängelte sie und hielt sich an Nathanaels Arm fest.
Nathanael blickte zu Cynthia hinüber und die beiden verhandelten kurz. Tessa versuchte gar nicht erst, der Unterhaltung zu folgen. Ihr fielen buchstäblich die Augen zu.
«Komm, ich bring dich rauf,» meinte Nathanael schließlich und sie stolperte erleichtert hinter ihm her.
Ihre Beine wurden mit jeder Stufe schwerer und sie seufzte auf, als Nathanael sie auf seine Arme hob. Sie gähnte, schloss die Augen und legte den Kopf an seine Brust.
16.
Nathanael trug Tessa die steile Treppe ins Obergeschoss hinauf, in dem sich sein Zimmer befand. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter und sie schlief. Im oberen Korridor begegnete er Daniel.
«Musst du Frauen jetzt betäuben, um sie abzuschleppen?», frotzelte er und klopfte ihm im Vorbeigehen freundschaftlich auf die Schulter.
Nathanael verdrehte die Augen. Aber weil er Daniels flapsige Art kannte, konterte er auf die gleiche Weise: «Nein, sie ist in Ohnmacht gefallen, weil sie noch nie einen solch heißen Typ wie mich gesehen hat.»
Daniels Lachen dröhnte durch den Flur. «Bilde dir bloß nichts ein, Nathan.»
«Angeber», murmelte Tessa verschlafen und lächelte, obwohl sie die Augen noch immer geschlossen hielt. Sie schlief also doch nicht so tief und fest, wie er angenommen hatte.
Normalerweise hätte Nathanael weiter gescherzt, aber seine Laune war nach dem Gespräch mit Cynthia auf den Nullpunkt gesunken. Er hatte genau gewusst, worauf die Prophetin vorhin angespielt hatte, nämlich auf seinen Schwur.
In einer schwachen Minute, kurz nach Ginas Tod, hatte er jemanden zum Reden gebraucht. Cyn war für ihn da gewesen. Das hatte er bitter bereut, denn sie glaubte, eines Tages Ginas Platz einnehmen zu können. Dabei hatte er ihr nie Hoffnungen gemacht. Nie würde er mehr in ihr sehen als eine gute Freundin, und das hatte er ihr oft genug und deutlich gesagt.
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