Nathanael
Flügeln kehrten zurück, sein bohrender Blick und die eindringliche Stimme, die in den hintersten Winkel ihres Geistes gedrungen war und ihr Denken ausgeschaltet hatte.
Nie hätte sie geglaubt, so leicht beeinflussbar zu sein, dass sie freiwillig in den Tod springen würde. Stets hatte sie sich zur Kategorie selbstbewusster Frauen gezählt, die so leicht nichts erschüttern konnte und die sich nicht beeinflussen ließen. Sie war nicht zurechnungsfähig gewesen, als hätte sie unter Drogen gestanden. Niemals durfte sich das wiederholen. War es Hazel ähnlich ergangen? Sie war es der Freundin schuldig, die Umstände ihres Todes aufzuklären.
Wie gern hätte sie ihre Gedanken jetzt mit Nathanael geteilt. Aber er war gegangen, nachdem sie eingeschlafen war. Ihr wurde ganz heiß bei dem Gedanken, dass Nathanael ihren nackten Busen berührt hatte.
Warum war er nicht bei ihr geblieben? Aus Rücksicht auf ihre körperliche Verfassung? Oder steckte etwas anderes dahinter?
Dabei hatte sie alles darauf angelegt, ihn zu reizen. Deutlich hatte sie seine Erregung gespürt. Sie war enttäuscht, weil er sich so einfach davongestohlen hatte.
Wenn sie nur an seine Küsse dachte, begann es in ihrem Schoß zu pochen. Nathanael war unglaublich heiß und sinnlich und ihr verflixter Körper reagierte darauf mit einer Intensität, die sie erschreckte. Sein verschleierter Blick hatte ihr verraten, wie sehr er um seine Beherrschung rang. Tessa lächelte. Bald würde er seinem Verlangen nachgeben, das spürte sie.
Statt über Nathanael nachzugrübeln, sollte sie lieber an Ernest denken. Ob Joel ihn gefunden hatte? Sie musste hinunter in die Bar gehen und nachfragen.
Doch in diesem Aufzug konnte sie unmöglich die Bar betreten. Sie stank noch immer fürchterlich und ihre Haare klebten am Kopf. Eine Dusche und frische Kleidung waren jetzt gefordert.
Der Dielenfußboden knarrte unter ihren Füßen, als sie zu dem einzigen Schrank des Zimmers hinüberlief, um nach etwas Tragbarem zu suchen.
Als sie den Schrank öffnete, klopfte es an der Tür. Sofort schnellte ihr Puls in Erwartung seiner Rückkehr in die Höhe. «Nathanael?»
«Nein, ich bin es, Cynthia. Ich bin nur gekommen, weil Ihr Bruder gleich hier sein wird.»
Endlich gute Nachrichten. Tessa konnte es kaum erwarten, Ernest in die Arme zu schließen. Sie öffnete einen Spaltbreit die Tür. Als Cynthia sie mit gehobenen Brauen taxierte, zupfte Tessa verlegen an dem Hemd, das ihr fast bis zu den Knien reichte.
«Sagen Sie nichts, ich weiß, ich sehe scheußlich aus. Aber im Schrank war nichts Passendes.» Tessa zog eine Grimasse. «Ich brauche dringend eine Dusche und saubere Sachen zum Anziehen. Könnten Sie mir vielleicht was leihen?»
Ein boshaftes Lächeln kräuselte Cynthias Lippen.
«Unter meinem Dach duzen wir uns alle. Und was zahlst du dafür? Für hundert Dollar gebe ich dir Klamotten von mir.»
Das war Wucher!
«Jeder muss sehen, wo er bleibt», sagte Cynthia, die ihre Gedanken erraten hatte.
Tessa überlegte nicht lange, sie brauchte was Gescheites zum Anziehen, also musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen.
«Also gut», gab sie widerwillig nach.
Cynthia drehte sich um und zeigte mit dem Arm auf die Tür nebenan. «Die Dusche ist gleich hier. Kostet zehn Dollar. Handtücher sind in der Kommode neben dem Waschbecken. Was das Outfit betrifft: Ich trage nur Schwarz.»
Tessa nickte. «Ich habe mit Schwarz kein Problem. «Hauptsache, ich stinke nicht mehr und laufe nicht wie eine Vogelscheuche herum.»
«Ach ja, ich kann dir noch ein Schoko-Croissant anbieten und starken, heißen Kaffee, für zehn Dollar. Dafür bringe ich es auch rauf», sagte Cynthia.
«Danke.» Tessas Magen knurrte. Am liebsten hätte sie entgegnet, dass das völlig überteuert war. Aber sie schluckte die Antwort hinunter, weil sie froh war, hier in Sicherheit zu sein.
Frisch geduscht stieg Tessa die Treppe hinab. Der starke Kaffee hatte ihre Sinne belebt und das Croissant ihren Hunger gestillt. Es ging ihr besser.
Nur in Cynthias Kleidung fühlte sie sich unwohl. Die Nähte an den schwarzen Hosenbeinen waren mit Doppelreihen silberner Nieten verziert. Diese auffälligen Applikationen fand Tessa ein wenig übertrieben, aber wenigstens passte die Hose, wenn sie auch zu kurz war.
Die Bluse darüber besaß Schöße wie ein Frack, war hochgeschlossen und spannte über dem Busen. Cynthia war oben nicht so üppig ausgestattet wie sie. Der strenge Kleidungsstil passte zu der
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