Nathanael
jeder für sich ihren Gedanken nach.
Die Szene von vorhin spielte sich vor Nathanaels Augen wieder ab. Tessa war keine Frau für einen One-Night-Stand. Sie wollte mehr, und er wollte auch mehr als nur einen kurzen erotischen Thrill. Nachdenklich starrte er auf den Tisch und malte mit dem Finger Kreise darauf. Er belog sich selbst, wenn er behauptete, es wäre so wie mit den anderen Frauen, eine flüchtige Affäre und danach gingen sie getrennte Wege. Da war mehr, diese unglaubliche Sehnsucht nach ihr. Doch das durfte nicht sein.
«Ich habe mich nicht verliebt», wiederholte Nathanael leise, als wollte er nicht nur Daniel, sondern auch sich selbst überzeugen.
«Da ist dieses gewisse Leuchten in deinen Augen, wenn du sie ansiehst. Hey, Mann, wo ist der gewissenlose Herzensbrecher geblieben?» Daniel lachte leise.
Nathanael sprang auf. Verdammt, er hasste es, wenn ihm jemand einen Spiegel vorhielt. Daniel hatte recht, zum ersten Mal hatte eine Frau es geschafft, echte Gefühle in ihm zu wecken. Er wusste ja selbst nicht, wie das hatte geschehen können. Je mehr er sich dagegen wehrte, desto stärker wurden sie. Sein Leben war kompliziert genug, noch ein Problem konnte er nicht brauchen.
«Setz dich wieder», sagte Daniel ruhig und deutete mit der Hand auf den Stuhl. Einen Moment zögerte Nathanael, bevor er der Aufforderung folgte.
«Gut, ich gebe zu, dass sie mich besonders heiß macht, aber mehr ist da nicht», beharrte er. «Nach einer Nacht habe ich sie wie alle anderen vergessen. Lassen wir lieber das Thema.» Wen wollte er hier eigentlich belügen? Tessa bedeutete ihm bereits mehr. Verbissen kämpfte er dagegen an, in der Hoffnung, dass sich dieses Gefühl mit der Zeit verlor.
Daniel schürzte die Lippen und lehnte sich mit einem schiefen Lächeln zurück.
«Na gut, es geht mich ja auch nichts an …»
«Eben.» Mit einem langen Zug leerte Nathanael sein Glas.
«Aber wir kennen uns doch schon eine lange Zeit, Nathan, und ich glaube, du machst dir etwas vor.»
Nathanael sah nicht auf. Er wollte das nicht hören.
«Was geschieht jetzt weiter?» Daniel verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf eine Antwort.
Nathanael zuckte mit den Achseln. «Mein Auftrag wartet auf mich. Ich werde mich morgen wieder an die Fersen des Gefallenen heften. Ich werde ihn kriegen.» Seine Finger gruben sich schmerzhaft in die Handflächen.
«Aber was wird aus ihr? Du kennst doch Cyn. Sie duldet auf Dauer keine Gäste, schon gar nicht weibliche, die obendrein noch hübsch sind.»
Wenn Joel mit ihrem Bruder aufkreuzte, würde sich schon eine Lösung finden. Nathanaels Geist war vom Alkohol getrübt. Zwar verflog der Rausch schneller als bei einem Menschen, aber eine Weile müsste er sich dennoch damit herumschlagen. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her. Die Narben auf seinem Rücken spannten wieder, sodass er sich nach vorn lehnte.
Daniel öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Nathanael ahnte, welche Frage er ihm stellen wollte.
«Frag jetzt nicht», kam er seinem Gegenüber zuvor und hob abwehrend die Hand. Daniels Mund schnappte zu wie eine Muschel.
Nein, auch wenn Daniel darauf anspielte, er würde nicht Tessas Beschützer spielen. Auf gar keinen Fall würde er einen Auftrag von ihr annehmen. Er war doch kein Masochist.
«Wie du meinst. Ich dachte nur, es könnte …» Der warnende Blick Nathanaels ließ Daniel verstummen. «Okay, versteh schon.» Daniel stieß einen lauten Seufzer aus, bevor er an seinem Bier nippte.
Nathanael war froh, dass er innehielt. Natürlich könnte er einen neuen Auftrag gebrauchen, um seine finanziellen Probleme aus der Welt zu schaffen, aber ausgerechnet von Tessa? Nie und nimmer.
«Aber …», begann Daniel wieder und wischte sich den Schaum von den Lippen.
«Was aber?» Nathanael schwante nichts Gutes.
«Joel hatte die Idee. Er hat es mir vorhin am Telefon erzählt.»
Dieser dreiste Scheißkerl! Nathanael wäre fast vom Stuhl gekippt. Er spürte, wie die Adern an seinem Hals anschwollen. «Er hat was? Wie kommt er dazu, den Vorschlag zu machen, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben?»
Wenn er ihn in die Finger bekäme, konnte er was erleben.
«Beruhige dich, du kennst doch unseren jugendlichen Heißsporn. In seinem Eifer kann er seine Zunge nicht im Zaum halten. Außerdem hat Joel nicht speziell dich vorgeschlagen, sondern sprach von einem von uns, der sich ihrer annehmen sollte. Er hat es nur gut gemeint. Natürlich hat er insgeheim – wie wir alle
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