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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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zu gehen. Doch auch diesmal wurde ihr Plan vereitelt. Gerade, als sie erschöpft auf die Bank vor der Veranda zustrebte, um sich vom Schleppen gefühlter eintausend Säcke Rinderpellets zu erholen, saß Nathaniel auf diesem Platz. Der herrliche Köcher und der Bogen standen neben ihm, während er in aller Seelenruhe die Sehne mit einem weißen Klumpen abrieb.
    Josephine erstarrte. Sollte sie zu ihm gehen? Seine Nähe würde ihr rhetorisches Geschick trockenlegen, andererseits war ihr klar, dass er genau damit rechnete – sie die Flucht ergreifen zu sehen. Und diesen Beweis seiner Wirkung auf ihren Verstand würde sie ihm verwehren.
    „Was tust du da?“, fragte sie in unbekümmertem Tonfall.
    Nathaniel blickte auf, als sie in gebührendem Abstand vor ihm verharrte. Einladend nickte er auf den leeren Platz neben ihm. Ob es tatsächlich Überraschung war, die kurz in seinen Augen aufglomm, konnte Josephine nicht mit Bestimmtheit sagen.
    „Ich muss regelmäßig die Sehne wachsen, damit sie geschmeidig bleibt und länger hält.“
    Langsam zog er den kleinen, weißen Klumpen von oben nach unten, um das Wachs anschließend mit Drehbewegungen seiner Finger einzuarbeiten. Während sie zusah, wiederholte er diese Prozedur zehnmal. Zeit schien vor Nathaniel in die Knie zu gehen. Sie kümmerte ihn nicht, tangierte ihn nicht im Geringsten. Selbst Josephines Schweigen und ihre Blicke änderten nichts an der Ruhe, die in ihm zu liegen schien.
    „Wozu ist dieses Pelzbüschel gut?“, fragte sie ihn.
    „Man knüpft es auf die Sehne, damit es Geräusche dämpft. Ein Trick, um lautlos zu schießen.“
    „Und wie gut triffst du damit? Einen Apfel auf fünfzig Schritt?“
    „Einen Apfel auf hundert Schritt“, erwiderte er. „Wenn es um leichte Übungen geht.“
    „Du machst Scherze.“
    „Hast du einen Apfel?“
    „Ja, aber …“
    „Dann hol ihn.“
    Nathaniels Lächeln war von einer Selbstsicherheit, die sie bröckeln sehen wollte. Josephine eilte in die Küche, nahm einen der Äpfel aus der Obstschale und lief zurück.
    „Da hast du ihn. Wo soll ich ihn hinlegen? Da hinten auf den Zaun? Das dürften ungefähr hundert Schritte sein.“
    „Nein.“ Nathaniel nahm einen Pfeil aus dem Köcher und unterzog ihn einer intensiven Musterung. „Du gehst hundert Schritte, ich meine große Schritte, und hältst ihn in deiner Hand.“
    „Vergiss es.“ Er war verrückt. Er musste verrückt sein. „Das werde ich nicht tun.“
    „Vertrau mir. Ich würde nie etwas tun, was dich in Gefahr bringt.“
    „Auf mich aus dieser Entfernung zu schießen nennst du also ungefährlich? Wie ist dein indianischer Name? Der-von-allenguten-Geistern-verlassen-ist?“
    „So ungefähr.“ Er senkte seine Stimme, beugte sich an ihr Ohr und schnurrte: „Vertrau mir, Josephine. Vertrau mir einfach.“
    Sie wusste nicht, warum. Aber sie begann, zu laufen. Zwanzig Schritte, fünfzig, hundert. Als sie sich umdrehte, schüttelte sie nur den Kopf. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Doch sie sah, wie er jene Geste demonstrierte, mit der sie die Frucht halten sollte.
    Josephine sah ihrem eigenen Arm fassungslos zu, wie er sich anhob. Sie sah, wie Nathaniel den Pfeil anlegte, wie er den Bogen spannte und zielte.
Spring in Deckung
, schrie ihr Verstand.
Um Himmels willen, bleib hier nicht wie angefroren stehen, du dumme Pute. Er wird dir das Ding sonst wo reinjagen
. Josephine kniff die Augen zusammen. Ihre Hand, die Apfel hochhielt, verkrampfte sich. Plötzlich ein Sirren, ein Pfeifen und ein Ruck. Etwas Feuchtes rann über ihre Finger. Blut? Nein, es roch süß.
    „Das ist doch …“
    Sie blinzelte konfus. Der Pfeil hatte den Apfel genau in der Mitte durchbohrt. Eine metallene, rasiermesserscharfe Spitze ragte aus seinem Fleisch heraus, tropfend vor Saft.
    „Wie hast du das gemacht?“ Als sie vor Nathaniel stand, kochte ihr Blut. Aufgewühlt von Faszination, Verwirrung und Ungläubigkeit.
    „In meinen jungen Jahren“, antwortete er, „hing es vom Erfolg der Jagd ab, ob man satt schlafen ging oder hungrig. Ob man den Winter überlebte oder nicht. Es lag in unserem eigenen Interesse, gut zielen zu können.“
    „Ist das nicht eine Spur zu ursprünglich?“ Josephines Blick heftete sich begehrlich auf den Bogen in seiner Hand. „Bringst du es mir bei?“
    „Genau so zu schießen?“
    „Ja.“
    „Wenn du das willst, üben wir ausnahmslos jeden Tag mehrere Stunden.“
    „Von mir aus.“
    „Ungefähr zehn Jahre lang.“
    „Von mir aus“,

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