Natürliche Selektion (German Edition)
süß.«
»Wie bitte?« Sie schaute ihre Mutter erschrocken an, als hätte sie eine Ohrfeige eingesteckt. Die Beine waren plötzlich nicht mehr wichtig. »Ich dachte ...« Sie war sprachlos.
Leo schmunzelte zufrieden. Ihr hatte es schon immer gefallen, sie mit verblüffenden Anspielungen aus der Fassung zu bringen. »Was dachtest du?«, fragte sie unschuldig.
»Ich dachte – du nimmst ihn nicht ganz ernst.«
»Oh nein, da irrst du dich, meine Liebe. Er ist mein Vertrauter in der Klinik, wie du sicher auch festgestellt hast. Und er ist süß. Das macht ihn so gefährlich für junge Frauen wie dich.«
Ruhig bleiben, nicht aufregen, Audrey , gebot sie sich im Stillen. Laut fragte sie: »Willst du mich provozieren?«
»Ich stelle nur fest. Ich kenne sein Privatleben kaum, aber auch mir ist die lange Reihe seiner Verflossenen nicht entgangen.«
»Ein Frauenheld, meinst du?«
Leo zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall versteht er es, uns um den Finger zu wickeln, wie du siehst.« Dabei zeigte sie mit einer ausladenden Handbewegung auf das prächtige Gewölbe, in dem sie schwitzten.
Um den Finger wickeln . Ihr gefiel der Ausdruck nicht. Recht hatte Leo trotzdem. Ein wenig, zumindest. Sie antwortete nicht. Stattdessen erhob sie sich und sagte: »Mir wird’s zu heiß hier. Los, komm, Schweiß abseifen, dann geht’s zur Gommage!«
Die Masseuse zerrieb die schwarze Seife zum cremigen Schaum. Mit der nach Oliven duftenden Masse bestrich sie den Körper ihrer Kundinnen, bis sie aussahen wie auferstandene Mumien. Zehn Minuten lagen sie auf den warmen Tüchern, ohne viel zu reden. Audrey fielen die Augen zu. Sie versuchte, an nichts zu denken, die Seele baumeln zu lassen, doch es gelang ihr nicht. Je mehr sie sich bemühte, desto aufdringlicher tauchte das bis über beide Ohren lachende Gesicht Edmonds vor ihrem inneren Auge auf. Sie schreckte hoch, als sie plötzlich einen sanften Druck auf ihrem Rücken spürte. Die Masseuse war zurück. Sie spülte die Seife mit warmem Wasser ab, dann schlüpfte sie mit der Hand in die Kessa, den traditionellen Massagehandschuh der Orientalen. Sie begann kräftig zu rubbeln, das abgestorbene Gewebe von ihrer feuchten Haut zu schrubben. Wellen wohliger Wärme durchströmten ihren Körper. Es fühlte sich an, als würde die rituelle Häutung ihr Blut nach langer Zeit zum ersten Mal wieder frei fließen lassen. Während sie sich nochmals ausgiebig wusch, begann die Masseuse, Leo zu behandeln.
Sie war noch nicht trocken, als Leo mit einem Mal einen Schrei ausstieß:
»Halt! Nicht dort!«
Jede Bewegung erstarrte. Alle hielten den Atem an, nur Leo raffte ihre Sachen zusammen und rannte hinaus. Audrey sah sie schon nicht mehr, als sie ihr hastig gerufenes »Entschuldigung« hörte. Entsetzt wandte sich die Masseuse an sie, fragte mit geweiteten Augen, was sie falsch gemacht hatte. Aber auch Audrey war schon beim Ausgang, suchte ratlos ihre Mutter. Was war plötzlich in sie gefahren? Auch im Ankleideraum keine Spur von Leo. Sie musste den Hammam wie der Blitz verlassen haben. »Nanu, was soll’s. Sie wird schon wissen, was sie tut«, seufzte sie und zog sich an. Edmonds Worte.
Sie trat in den Hof hinaus. Um die Mittagszeit waren die meisten Tische des Cafés besetzt. Die Sonne brannte heiß wie im Sommer. Jedermann saß draußen, mit Vorliebe im Schatten der Feigenbäume. Sie überlegte, ob sie sich auch hinsetzen sollte, suchte einen freien Platz und stutzte. An einem der Mosaiktischchen stand ein Mann auf und winkte ihr. Edmond, schon wieder?
»Audrey, kommen Sie! «, rief er.
»Beschatten Sie mich?«, fragte sie spöttisch, als sie sich zu ihm setzte.
Er machte eine beleidigte Miene und log: »Ich bin rein zufällig vorbeigekommen.«
»Klar, und ich kenne Sie nicht.«
»Das wäre hingegen sehr beunruhigend. Transiente Amnesie nennen wir so etwas, wenn der Zustand wieder vorübergeht, sonst müssten Sie in stationäre Behandlung.«
»Bei Ihnen – hätten Sie wohl gern, Edmond«, lachte sie.
Er sah sich um, fragte dann verwundert: »Haben Sie Leo auch vergessen?«
»Davongerannt«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie erzählte die seltsame Geschichte vom schnellen Ende der Massage. »Irgendetwas muss sie erschreckt haben«, schloss sie.
»Schade, aber das passt zu ihr. Sie reagiert manchmal etwas erratisch. Kein Grund zur Sorge.«
Innen wie außen angenehm aufgewärmt, fühlte sie sich pudelwohl. Er war ein aufmerksamer und witziger Gesellschafter. Sie vergaß Leos Warnung,
Weitere Kostenlose Bücher